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GESCHICHTE / GEWALT Gegen den Status quo

aus DER SPIEGEL 29/1970

Christen dürfen Tyrannen töten; Heinrich IV., König von Frankreich (1553 bis 1610), Ist ein Tyrann gewesen; also war es erlaubt, Heinrich IV. zu töten.

Auf diesen einfachen Syllogismus reduziert der Pariser Historiker Roland Mousnier, 62, die von katholischen Theologen vor allem im Mittelalter und in früher Neuzeit vertretenen Theorien über Tyrannenmord und Widerstandsrecht, Theorien, die in der modernen politischen und revolutionären Theologie, etwa in der von Jürgen Moltmann (SPIEGEL 4/1968) oder Johannes Baptist Metz (SPIEGEL 33/1968), ihre Fortsetzung finden.

Am Beispiel der Ermordung Heinrichs IV. durch den streng katholischen Schulmeister und Gerichtsagenten Francois Ravaillac am 14. Mai 1610 erläutert Mousnier, wie weit die theologischen Lehren über den Tyrannenmord besonders während der nachreformatorischen Glaubenskämpfe verbreitet waren*.

Zu einer Zeit, da die »Kanzel auf politischem Gebiet die Rolle des heutigen Fernsehens« spielte, waren Prediger und Beichtväter die Propagandisten des Aufruhrs und des individuellen Terrors. Sie schufen das Kraftfeld einer »kollektiven Psychologie«, das anarchistische Bewußtsein eines religiösen Fanatismus, der außer Ravaillac auch andere Attentäter beeinflußt hat:

* Roland Mousnier: »Ein Königsmord in Frankreich. Die Ermordung Heinrichs IV.«. Propyläen Verlag, Berlin; 292 Selten; 28,50 Mark.

* 1563 ermordet ein Calvinist den Führer der französischen Katholiken, Herzog Franz von Guise;

* 1584 tötet ein Katholik den Führer der niederländischen Reformierten-Rebellion gegen Spanien, Prinz Wilhelm von Oranien;

* 1589 ersticht ein Dominikaner König Heinrich III. von Frankreich, der einen Religionsfrieden erstrebt;

* 1605 mißglückt die »Pulververschwörung« englischer Katholiken, der Versuch, König Jakob I. und das Parlament in die Luft zu sprengen;

* 1610 stirbt Heinrich IV., nachdem seit 1593 rund 20 mißglückte Anschläge auf sein Leben unternommen worden sind.

Woher, so fragt Mousnier, hatten gläubige Christen die Gewißheit, daß es erlaubt ist, Tyrannen zu töten, obgleich sie dem fünften Gebot »Du sollst nicht töten« verpflichtet sind? Bereits im Alten Testament, so erklärt der französische Historiker, seien zahlreiche Tyrannenmorde verzeichnet, von denen zumindest einige, wie viele Theologen behaupten, im direkten Auftrage Gottes geschehen seien: so die Ermordung des Feldherrn Holofernes durch Judith, die Tötung des Usurpators Eglon, der die Israeliten unterjocht hatte, durch Ehud, und der Mord an Absalom, der seinen Vater David gestürzt hatte.

Auch in den Doktrinen des offiziellen »Lehrers der Kirche« Augustinus entdeckte Mousnier eine versteckte Verteidigung des Tyrannenmords. Augustinus gestehe den Vertretern des Volkes oder der Obrigkeit das Recht zu, einen Tyrannen verhaften, verurteilen und hinrichten zu lassen.

Die eigenmächtige Tötung des Tyrannen durch eine Privatperson ist nach Augustinus freilich nur dann berechtigt, wenn ein unmittelbarer Befehl Gottes vorliegt. Mousnier: »Wie sicher mußte man sich darüber sein, daß Gott gesprochen und befohlen hatte, einen Menschen zu töten!«

Radikaler als Augustinus urteilte der englische Scholastiker Johannes von Salisbury (um 1110 bis 1180), der zusammen mit Thomas Becket, dem 1170 mit Duldung des Königs ermordeten Erzbischof von Canterbury, zu den papistischen Gegnern Heinrichs II. von England gehörte, über den Tyrannenmord. Zwar unterscheidet Johannes den »Tyrannen im Amt«, der auf rechtmäßige Weise, etwa durch Erbfolge, an die Macht gelangt, sie aber dann mißbraucht, vom »Tyrannen als Usurpator«, der durch List, Betrug und Gewalt unrechtmäßig zur Herrschaft gelangt -- aber gleichwohl billigt er den Mord an jedem Tyrannen, da dieser »am Geist der Gerechtigkeit selbst frevelt« und sich damit, so Mousnier, des »Majestätsverbrechens an Gott« schuldig gemacht habe.

Den neben Johannes von Salisbury wichtigsten katholischen Theoretiker des Tyrannenmords fand Mousnier in Thomas von Aquin, dem seit 1567 offiziellen Lehrer der katholischen Kirche.

In einem Frühwerk, dem »Sentenzenkommentar«, erklärte Thomas laut Mousnier die Tötung eines Usurpators für legitim und verwies auf den römischen Staatsmann und Rhetor Cicero, der den Tyrannenmord gerühmt und die Mörder Cäsars verteidigt hatte. Und in seinem Hauptwerk, der »Theologischen Summe«, billigt Thomas ausdrücklich die Revolution gegen eine tyrannische Herrschaft; denn »tyrannisch ist, was dem Eigennutz des Regierenden dient und dem Volke schädlich ist« -- eine nicht eben reaktionäre und für Mousnier die »knappste und beste« Definition der Tyrannis.

Eine neue Dimension erhielt die Diskussion über den Tyrannenmord im Zeitalter der Glaubenskämpfe. Während der Scholastikerfürst Thomas die Erlaubtheit des Tyrannenmordes nur theoretisch gleichsam aus dem Naturrecht abgeleitet hatte, verwandelten die Theologen des 16. Jahrhunderts die Theorie in eine Anweisung zum Handeln.

So erklärte etwa der letzte große Scholastiker, der spanische Jesuit Francisco Suárez, jede Privatperson sei berechtigt, einen Tyrannen zu töten, der vom Papst abgesetzt worden sei. Und ein anderer Jesuit, der Spanier Juán de Mariana, polemisierte ähnlich den Anarchisten des 19. Jahrhunderts: »Die Fürsten sollen wissen, daß sie als Unterdrücker eines Gemeinwesens durch ihre Fehler und Verbrechen zur unerträglichen Last werden und sich der dauernden Gefahr aussetzen, umgebracht zu werden. Ihre Ermordung wird man nicht nur für gesetzlich halten, sondern sie sogar mit Beifall aufnehmen, und noch die kommenden Generationen werden sie als Ruhmestat ansehen.«

Doch unter dem Eindruck der Ermordung Heinrichs IV. verurteilte die Theologische Fakultät der Universität Paris (Mousnier: »Die höchste geistliche Autorität des Jahrhunderts nach dem Papst") grundsätzlich den Tyrannenmord. Daß die katholische Kirche sich von der scholastischen These des erlaubten Tyrannenmordes distanzierte, hatte zumindest zwei gewichtige Gründe:

Sie sah, daß Martin Luther die Fürsten für sich gewonnen hatte, weil er die Tötung von Tyrannen wie Revolution und Rebellion überhaupt verdammt und statt dessen den Gehorsam gegen die Obrigkeit gepredigt hatte. Die Kurie mußte ferner befürchten, daß nach England und einem Teil Deutschlands sich auch Frankreich von Rom lossagen würde, wenn der Papst nicht Konzessionen an den fürstlichen Absolutismus machte.

Zudem hat, so der französische Historiker, nach einer Epoche der Radikalisierung, der Bürgerkriege, Massenmorde und Attentate das soziale Bedürfnis nach einer autonomen politischen Macht bestanden, die »absolut«, also losgelöst von Gesetzen, Gewohnheitsrechten und Privilegien, handelt. Mousnier: »Ravaillac hat mit seinem Messerstich -- wahrscheinlich ohne es zu wollen -- dem Absolutismus in Frankreich zum Durchbruch verholfen und es auf diese Weise vor dem Untergang bewahrt.«

Nun verteidigten auch katholische Kirchenfürsten und Moraltheologen den unbedingten Gehorsam gegen den absoluten Fürsten und erklärten den Tyrannenmord zur Todsünde. »Den Untertanen kommt es zu, den Fürsten zu gehorchen, nicht über sie zu urteilen ... Es ist ... niemals erlaubt, den Tyrannen zu töten«, schrieb der heilige Alfons von Liguori (1696 bis 1787), den Papst Pius IX. 1871 zum »Lehrer der Kirche« erhob. Und der Hofprediger Ludwigs XIV., der Bischof von Meaux, Jacques-Bénigne Bossuet (1627 bis 1704), erklärte: »Der Tod des Fürsten ist ein öffentliches Unglück.«

Allerdings urteilt Mousnier: »Das Königtum von Gottes Gnaden, die absolute Souveränität des Königs und seine vollständige Unabhängigkeit im weltlichen Bereich wurden zur offiziellen Lehre des Protestantismus.«

Erst im 20. Jahrhundert, angesichts der Tyrannenherrschaft Stalins, Mussolinis und Hitlers, erinnerte sich die katholische Kirche wieder an ihre scholastische revolutionäre Tradition.

Bereits 1937, auf dem Höhepunkt moderner Gewaltherrschaft, erklärte Plus XI., die Kirche untersage in Grenzsituationen nicht die Verteidigung der Unterdrückten durch Gewalt. Und 1946 formulierte der bedeutende katholische Kirchenrechtler Andre Bride: »Ein einfacher Bürger könnte von seinem gesetzmäßigen Fürsten den Auftrag erhalten, einen aktuellen Usurpator zu töten (exécuter). Er könnte einen ähnlichen Auftrag auch von der Nation erhalten, die sich im Zustand des gerechten Krieges gegen einen regierenden Tyrannen befindet.«

Johannes Baptist Metz, Theologieprofessor in Münster und neben Karl Rahner ein Mitbegründer der neuen politischen und gesellschaftskritischen Theologie, schrieb 1968: »Wo ein gesellschaftlicher Status quo ebensoviel Ungerechtigkeit enthält, wie eventuell entstehen mag, wenn er revolutionär abgeschafft wird, da kann eine Revolution ... nicht unerlaubt sein.«

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