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HORMONE Geheimnis der Puppen

aus DER SPIEGEL 27/1966

Vor zwölf Jahren entdeckte der Nobelpreisträger Adolf Butenandt den Stoff. Und zwei Chemiker arbeiteten acht Jahre, um eine - für die Begriffe der Chemiker - erkleckliche Probe davon ins Reagenzglas, zu bekommen: Aus einer Tonne getrockneter Seidenspinner-Puppen gewannen sie ein zehntel Gramm der Wirksubstanz - des Hormons Ecdyson.

Nun, seit einigen Wochen, läßt sich das Ecdyson in Gramm-Mengen herstellen. Einer deutsch-schweizerischen Gruppe von Chemikern gelang es, die Substanz in der Retorte nachzubauen. Das Berliner Pharma-Unternehmen Schering und die Schweizer Firma Hoffmann-La Roche konnten - nach einem dramatischen Wettlauf mit einer amerikanischen Forschergruppe - diesen Erfolg jetzt mitteilen. Ausgangsprodukt ihrer Ecdyson-Synthese: Bäckerhefe.

Erstmals besteht nunmehr Aussicht, diesen überaus kompliziert aufgebauten Stoff zu erforschen, der zu den rätselhaftesten- und machtvollsten Steuersubstanzen der belebten Natur zählt.

Auch der Entdecker Butenandt hatte die ersten Milligram der Substanz aus Seidenspinner-Puppen gewonnen. Doch mittlerweile haben die Forscher festgestellt, daß Ecdyson zumindest bei allen Insekten, möglicherweise auch noch bei anderen Tierarten die wichtigsten Wachstumsvorgänge steuert.

Insekten, denen das Ecdyson entzogen wird, stoppen sogleich ihr Wachstum; sie vermögen sich weder zu verpuppen noch sich aus dem Verpuppungsstadium weiterzuentwickeln. Winzige Mengen des Hormons genügen, solch lebensentscheidende Körperfunktionen zu steuern: Der hundertmillionste Teil eines Gramms Ecdyson reicht hin, eine Fliegenmade zum Verpuppen anzuregen. Das Ecdyson zählt zu einer Gruppe von Hormonen, von der sich die Wissenschaftler besonders reichhaltigen Aufschluß auch über menschliche Lebensvorgänge erhoffen. Es gehört zu den sogenannten Steroiden, deren Moleküle - anders als die zweidimensional geketteten Moleküle einfacherer Hormone, etwa des Insulins - nach einer dreidimensionalen. Ordnung aufgebaut sind. Versetzt man beispielsweise beim Ecdyson die Lage einer einzigen Wasserstoffgruppe innerhalb des Molekül-Gebäudes von »oben« nach »unten«, so verliert die Substanz sogleich jegliche Wirksamkeit.

Zwar sind in den letzten Jahrzehnten mehrere solcher Steroid-Hormone im menschlichen Organismus identifiziert worden; die Geschlechtshormone, aber auch Hormone der Nebennierenrinde, wie das Cortison, zählen dazu. Aber bislang ist rätselhaft geblieben, auf welche Weise die Steroide ihre Steuer- und Regelfunktionen im Körper erfüllen.

Das Ecdyson gilt nun, wie ein amerikanischer Forscher formulierte, als »ein idealer Versuchskandidat« für die Aufklärung der Wirkweise von Steroiden. An den relativ leicht überschaubaren Lebensvorgängen niederer Insekten, so hoffen die Wissenschaftler, werden sich, etwa mit Hilfe radioaktiver Markierungen, die verborgenen Pfade der komplizierten Steuersubstanz im Organismus am ehesten aufspüren lassen.

Letztes Jahr, ein Jahrzehnt nachdem Butenandt den Wirkstoff in reiner Form kristallisiert hatte, gelang es einur Münchner Forschergruppe erstmals, die labyrinthische Raumstruktur des Ecdyson-Moleküls zu entschlüsseln. Fortan arbeiteten Schering- und La -Roche-Chemiker - in Berlin unter der Leitung von Dr. Rudolf Wiechert, in Basel unter Dr. Andor Fürst - in einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit einer Forschergruppe der kalifornischen Pharma -Firma Syntix an der Laborsynthese des Insekten-Hormons. Drei Tage früher als die US-Kollegen konnte das

deutsch-schweizerische Team von der - über 19 Zwischenstufen - gelungenen Synthese berichten.

Neben der Nutzung zu Forschungszwecken halten die Chemiker auch eine wirtschaftliche Verwertung des Ecdysons für denkbar. Die Substanz könnte als hochwirksames, nur bestimmte Insektenarten angreifendes Schädlingsgift verwendet werden. Und auch die amerikanische Fischkonserven - Industrie interessiert sich für den Wirkstoff: Eine Variante des Ecdyson-Moleküls ist mit dem Häutungshormon der Krebse identisch; Krebstiere auf bequeme Weise zu entschalen scheint damit möglich.

Allerdings: Jedes Gramm des im Labor aus Hefe synthetisierten Ecdysons kostet rund 10 000 Mark - zweitausendmal soviel wie Gold.

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