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Legenden Geist aus der Asche

aus DER SPIEGEL 47/1996

Ewig, so heißt es, strahlt der Ruhm in einer dankbaren Nation - »nicht nur der«, sagten die Urnenträger des Pariser Panthéons und weigerten sich, die Asche der Madame Curie, Erforscherin der Radioaktivität, in den Ehrentempel der französischen Republik zu tragen. Erst ein Geigerzähler konnte ihnen die Sorge nehmen. Da tickte nichts mehr.

Es ist schon ein heikles Unterfangen mit weltlichen Heiligsprechungen: Tot ist tot, gewiß; doch ganz geheuer ist der Nachwelt nie. Zu seinem 20. Todestag werden am 23. November die Überreste von André Malraux die Stufen zum Panthéon hinaufgetragen - Trommelwirbel, Trikoloren, vermutlich Hundewetter; doch weiß man eigentlich, welchen Malraux man da unter seiner Marmorplatte auf dem Pariser Vorortfriedhof Verrièresle-Buisson hervorgeholt hat? Den Tempelräuber oder den Kulturminister? Den Literatur-Preisträger oder den Bomberschützen im spanischen Bürgerkrieg? Den scharfsichtigen Pamphletisten gegen den Kolonialismus oder den blindergebenen Sänger des Generals de Gaulle? Den Kokser etwa und Opiumraucher, den Guerrillero?

Da tickt noch einiges im Sarg. Seit Wochen trägt das Pariser Kulturministerium daher mit Symposien, Schulaufsätzen, Metroplakaten dafür Sorge, daß alles Subversive im Leben von Malraux nur mehr als Jugendsünde erscheint. Und da es von dem Kettenraucher kaum ein schönes Foto gibt, das den Anti-Tabak-Gesetzen entsprechen würde, retuschierte man für die Sonderbriefmarke aus Gisèle Freunds Malraux-Porträt die Zigarette weg.

Der Mann ist eben nur eine Notlösung im Götterhimmel, ein Platzhalter für einen Unabkömmlichen. Präsident Jacques Chirac möchte, daß der Gaullismus auch im Staatsheiligtum Panthéon vertreten ist, nachdem er im Elysée-Palast und im Senat herrscht. Nur mangelt es an Reliquien, die Knochen des Stammvaters stehen nicht zur Verfügung: Charles de Gaulle hat verfügt, neben Frau und Tochter auf dem Dorffriedhof von Colombey-les-Deux-Eglises in der Champagne begraben zu werden. Und zwar für immer.

Der Kuppelbau nahe des Quartier Latin ist eine Einrichtung, wie es sie nur in Frankreich geben kann. In der ehemaligen Kirche betreibt die République française seit der Revolution einen aufgeklärten Totenkult, inklusive Reliquien und gedämpften Stimmen in der Krypta. Andere Länder bauen sich eine »Baseball Hall of Fame«, in Paris ehrt man die »grands hommes«, die großen Männer der Republik. Bewacht von einem »Nationalkonvent«, der inmitten lebhafter Debatte zu Marmor erstarrt ist, stetig bestrichen von einem Foucaultschen Pendel, liegen die 70 Großen in ihren Behältnissen. Kardinäle, Generäle. Die Eheleute Curie haben ein Abteil für sich.

Den Parisern gilt der Panthéon als kalt, und außerdem kostet er Eintritt. Sie schleppen die Blumentöpfe ihres Gedenkens lieber zu den Gräbern von Dalida oder Serge Gainsbourg. François Mitterrand dagegen ging im Panthéon ein und aus, begann seine Amtszeit 1981 hier in der Krypta und füllte die freien Kammern mit dem Europäer Jean Monnet, den Aufklärern Condorcet und Abbé Grégoire, den Curies und René Cassin, Verfasser der Uno-Menschenrechtserklärung.

Chirac möchte an die Staatsschauspiele seines Vorgängers anknüpfen, zumal er bislang mit großen Gesten eher danebengriff, und das nicht nur auf Mururoa. Da für Pyramiden und Triumphbögen kein Geld mehr vorhanden ist, kam der von Freunden des Toten aufgebrachte Vorschlag einer Pantheonisierung gelegen. Heiligsprechungen sind budgetneutral, und ein Häufchen Asche, aus dem man die Flamme gaullistischen Geistes blasen könnte, sollte leicht zu finden sein.

Gesucht also: grand homme, klug, konsensfähig und geeignet, den General zu doubeln. Albert Camus, den viele lieber als Vertreter engagierten Schreibens in die Gruft Nr. 6 hätten einziehen sehen, kam nicht in Frage: zu links. Weshalb nicht gleich Sartre? Nein, de Gaulles Minister für Kultur, André Malraux, war der einzig Richtige. Damit keine Mißverständnisse aufkommen, bestand Chirac darauf, die Totenrede selbst zu halten.

Tatsächlich protestierte niemand gegen die Pantheonisierung des André Malraux. Im Gegenteil. Der Salondenker Bernard-Henri Lévy ernannte Malraux nicht nur zu einem großen, sondern zu einem »sehr großen Intellektuellen« und sich selbst damit zum legitimen Nachfolger. Jack Lang, der als Kulturminister Mitterrands Panthéon-Zeremonien in Szene gesetzt hatte, schrieb einen »Brief an Malraux«, eine Ode mit dem Tenor: »Linke Rebellen wie wir«.

Allein der Komponist Pierre Boulez kann nicht verzeihen, daß der Minister Malraux sein Genie nie zu erkennen vermochte: »Malraux? Eine Wörtermaschine. Ständig umwölkt von Haschisch- oder Champagnerdünsten.«

Noch 1976 war das ungefähr der Ton, mit dem die Linksintellektuellen Malraux ins Grab entließen. Sie hatten es ihm nicht vergessen, daß er im Mai 1968 mit dem Ancien régime, den Gaullisten, Algerienkämpfern und Pétainisten für Recht und Ordnung marschiert war. »Der Malraux-Kult ist das Opium der französischen Bourgeoisie«, schrieb der Guevara-Verehrer Régis Debray damals.

Malraux hat sich sein Leben aufs Panthéon hin geschrieben und hin gelebt. Der Mensch, so war er überzeugt, sei zum Sterben geboren, und die Kunst das einzige, was dem Nichts entgegenstehe. Wer nicht Picasso heißt und ein grand homme sein will, der muß handeln, und zwar möglichst so, daß es die Nachwelt merkt. Also am besten schreibend.

»Nicht wahr, nicht falsch, aber gelebt«, lautete die Malraux-Maxime. Er befolgte sie, bis Leben und Werk sich ununterscheidbar vermischten. Er läßt bei seiner Geschichte des Schanghai-Aufstandes von 1927, der »Condition Humaine«, die Mißdeutung zu, er sei dabeigewesen, und er führt seine Brigade Elsaß-Lothringen in taktische Manöver gegen Hitler, wie er es bei Lawrence von Arabien gelesen hatte.

Jean-François Lyotard, von Haus aus Philosoph der Postmoderne, hat eine Nachdichtung dieses Legendenlebens vorgelegt: »Gezeichnet Malraux"*. Das

Buch erzählt von einem, der umgetrieben wird von seiner Herkunft, einem Vorstadt-Krämerladen, und von der Angst vor Mittelmaß und großer Mutter. Ein Marlboro-Mann auf der Flucht vor Weich- und Weiblichkeit, besessen vom Gedanken an den Tod und die Würmer. Irrend zwischen den Leichenbergen unseres Jahrhunderts und dem Sterben seiner Nächsten, bis er an der Seite eines Menschen Vergessen findet, dem einzigen, den Malraux je - so erinnert sich die Tochter Florence - bis zur Selbstaufgabe geliebt hat: Charles de Gaulle.

Malraux beginnt seinen Aufstieg zum großen Mann damit, das Vermögen seiner ersten Frau zu verspekulieren. Clara Goldschmidt ist eine ein wenig ältere und gewiß nicht dümmere Intellektuelle mit Vorfahren aus Magdeburg. Die Malraux'' machen sich nach Kambodscha auf und zersägen sieben Basreliefs aus der Zeit der Khmer-Herrscher, um sie in den USA zu verkaufen. Malraux wird als Kunsträuber zu drei Jahren Haft verurteilt, und es ist an Clara, die Pariser Salons zu mobilisieren, um den so brillanten, so gut aussehenden Jungautor wieder freizubekommen. Malraux läßt es sich eine Lehre sein: »Ich werde mir meine eigene Statue bauen.«

Er ist keiner, der sein Jahrhundert verschläft. Malraux verlegt Valéry und Gide, gibt in Saigon eine aufrührerisch antikolonialistische Zeitung heraus und läßt sich in die jemenitische Wüste fliegen, um die Hauptstadt der Königin von Saba zu finden. Schreibt seine Bücher hastig, reportagehaft, ohne sich in Psychologien zu vertiefen. Ein Dandy-Abenteurer mit guten Manieren, der nie ohne Zigarettenetui, Federhalter und Revolver das Haus verläßt.

Als andere Verächter des Bürgerlichen - wie der von ihm verehrte spätere Kollaborateur Pierre Drieu la Rochelle - die Schönheit blonder Bestien entdecken, wählt Malraux das andere Lager: »Weil der Faschismus das Gegenteil ist von künstlerischem Schaffen«, ergreift der mittlerweile zu Ruhm gelangte Autor Partei. Er reist nach Moskau und Berlin, redet für Dimitroff, Thälmann, aber auch für die Verfemten, für Boris Pasternak, Isaak Babel, Trotzki. Malraux ist ein Mann der Linken geworden, solidarisch mit Stalin, aber ohne zum Parteiknecht zu werden.

Spanien wird der Ernstfall. Jorge Semprun, Schriftsteller und nun Präsident des Nationalen André-Malraux-Komitees, sieht in Malraux'' »Engagement auf seiten der spanischen Republik den roten Faden, der sein ganzes Werk und sein öffentliches Leben durchzieht. Hier beginnt er seine Trauerarbeit am Kommunismus, ohne seinem tragischen Humanismus und Antifaschismus untreu zu werden«.

In Madrid improvisiert der elegante Goncourt-Preisträger aus einer Handvoll Altmetall-Maschinen ein Luftwäffchen. Die »Escadrille España« wird eine Zeitlang den Vormarsch der Franco-Truppen behindern. Als die Republik schließlich doch gefallen ist, Frankreich von Deutschland besetzt, flieht Malraux nach Südfrankreich - in die Arme einer Geliebten, in das Wesen der Kunst und in eine Studie über Lawrence von Arabien. Sartre will ihn zur Résistance überreden. Malraux lehnt ab.

Erst als im Frühjahr 1944 seine beiden Brüder von der Gestapo verhaftet und später ermordet werden, entschließt sich Malraux zum Widerstand. Unter dem Romannamen »Colonel Berger« führt er eine Sabotage-Einheit, kämpft im Elsaß mit falschem Oberst-Titel und echten Erfolgen, zieht schließlich mit seiner Brigade in Stuttgart ein.

Verrat, Opfer, Tod - die Résistance ist eine Gegenwart, die dem Mythos nahekommt. In den Scheunenverstecken des Maquis glaubt Malraux jenes Frankreich der kleinen Leute gefunden zu haben, das unverhofft zu so erhabenen Ereignissen wie der Revolution von 1789 fähig ist.

Bei Kriegsende ist aus dem Internationalisten Malraux ein Patriot geworden, aus dem Kommunismus ein Imperium, und dann steht da noch ein Mann mit Generalsmütze und großer Nase und sagt, er sei Frankreich: »In de Gaulle hat (Malraux) die Einheit von Tatmensch und Künstler vermutet, nach der er selbst immer gestrebt hat«, erklärt sein Biograph Jean Lacouture den amour fou des Colonel Berger.

Mehr als den selbsternannten Garanten für Ordnung möchte Malraux im General den Rebellen von 1940 bewundern, jenen Historienspieler, der mit einem Spiegeltrick ("Die Republik hat niemals aufgehört zu existieren") Niederlage und Vichy-Regime hinweggezaubert hat und Frankreich als sein Kunstwerk versteht.

Malraux engagiert sich, bedingungslos, unter vollem Einsatz seines Rufes. Von 1958 bis 1969 sitzt einer der wortgewandtesten Männer des Landes dem General als Kulturminister im Kabinett zur Rechten und schweigt: zu Indochina, zur Israelpolitik, zu Algerien.

Noch 1958 hat Malraux gemeinsam mit Sartre einen Protest gegen die Folter der französischen Armee in Algerien unterzeichnet. Nur zwei Monate später - inzwischen regiert de Gaulle - spottet er über die edlen Seelen vom Pariser »Café de Flore« und scheut sich nicht zu lügen: » ... hat es keinen Fall von Folter gegeben seit der Ankunft des General de Gaulle in Algier«.

Malraux hat seine Wahl getroffen. Wer gegen de Gaulle ist, ist gegen Frankreich, gegen die Republik, gegen die Résistance.

Als diese Stimme seines sonderbaren Herrn kam André Malraux unter die Deutschen, als Propagandist von grandeur, grande nation und all jenen Dingen, über die auch heute noch jedes Provinzkabarett unverdrossen Witzchen reißt, wenn die Rede auf Frankreich kommt. Es war ein verpaßtes Rendezvous: In dem Jahr, als die »Condition Humaine« (deutsch: »So lebt der Mensch") erschien, jener flammende Appell zur Auflehnung, auch wenn sie vergeblich bleibt, brannten in Berlin die Bücher.

Und als Malraux nicht mehr verboten war, erschien den Deutschen jedes Pathos suspekt. Sie hatten genug von großen Gesten und bebenden Stimmen. Die Nachkriegsdichter hockten in grauem Tweed beisammen und machten die Nüchternheit zur Tugend. Sartre, natürlich! Camus, schwarze Rollkragen, süße Rebellion im Keller - das schon, aber bitte keine ästhetische Trunkenheit, keine Bocksprünge durchs Abendland.

Und was bleibt von Malraux? Semprun stellt fest, daß er »heute kaum gelesen wird« - und das dürfte sich kaum ändern. Die »Condition« ist schlecht gealtert, liest sich spröde, wie ein zum Roman umgearbeitetes Essay. Malraux'' kunsthistorische Schriften sind bei der Kritik durchgefallen.

Auch das Urteil über den Minister für Kultur André Malraux ist zwiespältig. »Mehr Sänger versunkener Zivilisationen als ein täglicher Förderer der Gegenwartskreation«, meint einer seiner Nachfolger im Amte, Jack Lang. Malraux ließ die Häuserwände von Paris schrubben und weitete den Kulturbegriff so aus, daß es Adorno grausen mußte: Rodin-Kopien in jedes Dorf, Großausstellungen, Kunstposter in jedes Klassenzimmer.

Aus der Sowjetunion importierte er die Idee der Kulturhäuser, und er verteidigte im Parlament, gegen die eigene Fraktion, die Aufführung von Jean Genets Theaterstück »Die Wände«. Doch als die freie Kultur im Mai 1968 nach der Politik griff, nahm Malraux das übel und entließ Jean-Louis Barrault ("Kinder des Olymp") als Theaterdirektor.

Weshalb dann der erstaunliche Konsens, daß André Malraux seine Gruft Nr. 6 im Panthéon verdient hat? Weil es diesem Mann ein einziges Mal gelungen ist, den Panthéon, diese kalte Gruft, wo die toten Götter schlafen, mit Leben zu erfüllen.

Am 19. Dezember 1964 hielt Malraux die Gedenkrede auf Jean Moulin, den von den Deutschen ermordeten Führer der Résistance: »Kehre ein hier, Jean Moulin, mit deinem furchtbaren Gefolge ...«

Es war eine Beschwörung der Schatten, eine Anrufung des »Volkes der Nacht« (gemeint war die Résistance, obwohl die ja keineswegs das ganze Volk umfaßte). Malraux sprach, das Gesicht von Zuckungen durchpflügt, stieß seinen Atem spasmisch-pfeifend aus. Eine Stimme, die das Grauen nacherlitt und schließlich in einem klagenden Zittern verflog. Es war ein Requiem für eine Stimme, eine der Reden in der Tradition von Mirabeau und Saint-Just, und wer sie einmal gehört hat, der vergißt sie nicht mehr.

Diese Szene hat sich für die Franzosen mit dem Panthéon verbunden. Und diesen André Malraux haben sie im Gedächtnis behalten, mehr als den Minister und Schriftsteller. Es bleibt die Erinnerung an eine Stimme, die einen Toten beschwor, das Echo eines Echos. Und womöglich die Sehnsucht nach einer Zeit, als Pathos noch der Stoff war, aus dem man große Männer macht.

* Jean-François Lyotard: »Signé Malraux«. Verlag Grasset,Paris; 360 Seiten; 138 Francs.

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