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Artikel 64 / 83

Gepolter im Beichtstuhl

Von Rudolf Augstein
aus DER SPIEGEL 31/1979

Wenn die handelnden Personen Pliefger, Blörl, Holzpuke, Picksehne, Plotzkehler und Zurmack heißen, Plotteti auch wohl, Blurtmehl, Kiernter, Kulgreve, Fottger, Amplanger und Anna Plauck, auch Schneiderplin, Grobmöhler und Peter Kommertz; wenn sie das Cafe Getzloser besuchen und die Boutique Breslitzer, wenn sie handeln oder nicht handeln in Ortschaften wie Horrnauken, Trollscheidt, Blorr und Breterheiden, in Hurbelheim, Hubreichen und in Blückhoven: dann geht die Ahnung wohl nicht fehl, daß wir in einem Roman von Heinrich Böll lesen. Wir betreten geweihten Boden, unheiliges Land.

Obwohl der Herrgott und sein eingeborener Sohn Jesus Christus den Böllschen Figuren kaum noch etwas bedeuten (allenfalls die Himmelskönigin Maria), finden wir auch in diesem neuen Buch »Fürsorgliche Belagerung« die altvertrauten Requisiten des rheinischen, von Böll spektral-analytisch gebrochenen katholischen Milieus.

Wer nicht zur Messe geht, sitzt doch gern in der leeren Kirche und betrachtet den neugotischen Beichtstuhl, wie der Zeitungsherr Fritz Tolm. Sein Fahrer und Masseur Blurtmehl, katholischer Internatszögling und dem Konzernherrn von einem Bischof vermacht, läßt »beten, indem er seine höchst weltliche Geliebte zum Katholischwerden überzeugt; er macht sonntags das Frühstück, sie geht zur Messe.

Der Polizist Hendler meckert am Essen, wohl wissend, daß auf die Erstkommunion seines einzigen Sohnes gespart werden muß; ob dieser schon »sexuell erregbar« sei, darüber gibt es »ekelhafte Diskussionen«, unter anderem mit Kiernter, dem Polizeipsychologen. Hendler beharrt feierlich und freudig auf liturgischen Formen, die er als »sein Recht« bezeichnet; im übrigen bewacht er Tolms Familie.

Die untergetauchte Terroristin Veronica, Tolms ehemalige Schwiegertochter, telephoniert gern mit ihrer früheren Familie und singt dann Marienlieder, »Maria Maienkönigin«. Sabine, Tolms Lieblingstochter, hat religiöse Bedenken gegen die Pille. Käthe, seine Frau, war während des Krieges gegen »Nazis und Protestanten« gleichermaßen allergisch.

Bischöfe und Prälaten figurieren als manchmal nette, in jedem Fall aber unnütze Esser. Katholische Pfarrer haben entweder eine dralle Haushälterin, oder sie linsen Beichtkindern in den Ausschnitt, oder sie verlassen ihre Pfarre, um mit einer Frau zusammen zu leben, heimlich, aber doch ertappt; daß in solchem Augenblick das ewige Lichtlein erlischt, ist einleuchtend.

Bölls treue Leser werden auch in »Fürsorgliche Belagerung« wiederfinden, was sie an ihm haben. Mich, das muß ich gestehen, langweilt dies ganze Beicht- und Pfarrköchinnen-Lamento allmählich; und bin doch selbst als Kind x-mal gefragt worden, ob ich Unkeuschheit begangen hätte, »allein oder mit anderen«. Hier verläuft, um Gerhard Mauz zu zitieren, die Front nicht mehr.

Was gibt's also Neues aus dem Hause Böll? Frontal wie der kühne Reinhold Messner seine Achttausender geht er die Probleme unserer Zeit an, alle auf einmal, alle miteinander verknüpfend: den Umweltschutz, das Vordringen der Braunkohle, den Abfall intelligenter Jugend von ihren Eltern und ins alternative Leben, den Terrorismus, den totalen Überwachungsstaat, in dem man entweder be- oder überwacht wird oder auch beides gleichzeitig, es fehlt nur noch Harrisburg.

Im Bewachten-Staat eine Liebesbeziehung zwischen der frommen Tolm-Tochter Sabine, Mutter einer »süßen« Tochter und bekannte Turnierreiterin, und dem sie bewachenden Polizeibeamten Hubert Hendler, »ein großer Blonder, ernst und stolz«, der »nicht einmal sehr hart mit den Dirnen umgegangen war, als er bei der Sipo war«.

Die beiden bekommen ein Kind, passen aber nicht zueinander: eine ausweglose Situation also? Nicht ganz. Tolm, runde 65, der bei den Kommunisten seiner Kindheit und Jugend »eine kommunistische Wärme« wahrgenommen hatte, die ihn, den Studenten, in die »roten Kneipen« trieb, Tolm weiß über Nacht, »daß ein Sozialismus kommen muß, siegen muß«.

Zum besseren Schluß zündet Tolms siebenjähriger Terroristen-Enkel das Schlößchen der Tolms in Brand. Die Tochter Sabine, ihrem scheusäligen Mann durchgebrannt, das ungeliebte Schlößchen abgebrannt: Da wundert Frau Käthe sich denn doch, »daß Tolm lachte«. Dies der Schlußsatz des neuen Böll-Buches.

Mit Tolm müssen wir uns beschäftigen. Er ist der Prototyp jener Anzugständer, die Böll mit seiner beträchtlichen Kunst zu Menschen ausstaffieren will. Warum dieser Tolm nebst Frau, Kind und Enkelkindern so straff be-. wacht wird, kann man nur ahnen.

Das Buch beginnt damit, daß er Präsident eines Unternehmerverbandes wird, und endet drei Tage später, als er das Amt wieder los wird. Bis dahin ist er etwa so gefährdet wie der BDI-Präsident Fasolt, bevor der dem Hanns Martin Schleyer für fünf Monate nachfolgte, nämlich gar nicht.

Zwar gibt es eine »Tolm-Holding«, aber wir erfahren von Tolms Tätigkeit nichts weiter, als daß er 32 Jahre lang »das Blättchen« unter sich gehabt hat, das »Bevenicher Tagblatt«, ihm nach dem Kriege vererbt, ihm immer fremd geblieben, eine Zeitung vielleicht von Größe und Bedeutung der »WAZ«, weil sie Kopfblatt um Kopfblatt schluckt; ob Tolm den Titel nicht wenigstens ändern sollte?

Wie wird ein mittlerer Zeitungsverleger eine Art Schleyer mit der Sicherheitsstufe eins? Man erfährt es nicht. Die ökonomischen Bedingungen seines Unternehmens kennt er nicht, er ist gütig, weißhaarig, Gelegenheits-Feuilletonist und krank. Ohne das Faktotum Blurtmehl kann er sich nicht einmal die Schuhe anziehen. Aber er schreibt »mal über Bosch oder über Dali«. Ebensowenig kennt er die handwerklichen Bedingungen seines Gewerbes. Sonst müßten ihm die Redakteure nicht täglich die Silben »Jour, Jour, Jour« einprägen. Ein fürsorglicher Ehemann, ein liebevoller Vater, von der bildenden Kunst hoffentlich etwas gesegneter als sein Autor Böll (die Schwaden der Kraftwerke wirken »idyllisch, naturhaft, wie auf manchem Niederländer, auf frühen Gainsboroughs und Constables«, das ist Hochstapelei, Herr! Kinder-Mannequins steigen »wie aus einem Renoir oder einem Rubens").

Das also ist Fritz Tolm. Sein allzeit hungriges »Blättchen« steht selbst zur Disposition, von dem Pressezaren Zummerling geschluckt zu werden; in Zummerlings fröhlich liebenswertem Sohn kann man unschwer den Böll-Bekannten Axel Springer junior ausmachen. Aber Zummerlings Leute? Brrrr!

Nicht nur Zeitungen werden geschluckt, auch Haus Eickelhof, wo die Tolms sich wohl gefühlt hatten, und das »Schlößchen"' wo sie sich weniger wohl fühlen. Unnachsichtig frißt die Braunkohle sich gen Holland. Muß man denn seinen Besitz gegen viel Geld verhökern? Ach ja, man muß, um des Geldes willen, schließlich kann Tolm keine Zigarette »verkommen« lassen. Aber auch von wegen dem guten Beispiel.

Man sieht, der Satiriker Böll schwingt die Peitsche, und nicht zum ersten Mal kommt die Erzähle unter die Räder, diesmal knirschend und krachend. Denn Fritz Tolm, so wenig bedroht von den Terroristen wie irgendein wohlhabender Mittelständler, hat genau jene Halluzinationen, die einem obersten Sicherheitsbeamten in seinem Bunker wohl anständen.

Tolm hat Ängste. Welche? Vor einem schallgedämpften Schuß aus einem Feuerzeug, das der Kellner zureicht; vor einer Zigarettenschachtel ("seit der Sache mit Plotteti"); vor einer »gesalzenen« Geburtstagstorte, wie sie seinem Vorgänger Pliefger zugedacht gewesen («. . . ließen sie alle Kuchen im Hause backen"); vor seinem Bischofsmasseur, der ihn im Bad erwürgen könnte ("Das Türaufhalten hatte ihn mißtrauisch gemacht").

Er fürchtet, daß eine mechanische Ente, »eine schwimmende Bombe«, ihn umbringen könnte ("Seitdem mißtraute er den Enten"). Bedenklich stimmt ihn auch, daß die katholisch gewordene Freundin seines Masseurs Blurtmehl mit Pfeil und Bogen hantiert ("Pfeil und Bogen waren lautlose Waffen"). Schließlich haben Masseure und Priester denselben »sanfttraurigen Blick«.

Dieser Verbandspräsident fürchtet sogar, daß sie ihn nur gewählt haben, damit er »auf die stille Tour« (von seinem Masseur oder dessen Bogenschützen-Freundin oder einer mechanischen Ente?) erledigt würde, um einem anderen Typ -- »hart dynamisch, strahlend, gesund« -- Platz zu machen.

Stimmt es, daß über jedem kleinen Zeitungspotentaten ständig ein Hubschrauber kreist? Stimmt weiterhin, daß man als westdeutscher Verbandspräsident aus dem schützenden Haus in den Regen gehen muß, um ungestört mit seiner Frau reden zu können? Der Satiriker Böll schafft das per Regenschirm. Schirme »schirmen ab gegen -- sie lachte kurz -- Lauschangriffe«.

Ja, früher, als junger Mann, da hatte auch Tolm noch was los. Da gab es »Gepolter im Beichtstuhl«, nur daß der vielleicht nicht neugotisch war. Da erwartete ihn die Freundin in der Moselstraße »oben ohne« -- wie man das eben damals so handhabte.

»Oben ohne«, »Titten« und »Porno« sind Schlüsselworte in diesem Buch. Stinknormale und ordentliche Frauen stecken »mitten drin im Porno« oder finden »aus dem Porno nicht mehr heraus«. Heinrich Böll, der in früheren Jahren den katholischen Schlüpfer-Mief und -Muff der Kirchenblätter weggeblasen hat und dem etliche der anrührendsten Liebesszenen der deutschen Nachkriegsliteratur gelungen sind, schlüpfert jetzt selbst ziel- und selbstlos in einer Mode von gestern, in der er nur noch herumtapert ("Die frivole Porno-Tour«, »der flotte progressive Pornotyp«, »der ganze Pornokram«, »Porno-Katholizismus«, »Porno und Schlimmeres«, noch Schlimmeres?).

Wir sind aber nicht bei Beate Uhse, trotz oben und unten, trotz Licht und Schatten. Damit die bewachte Superfrau Sabine Fischer sich mit ihrem Bewacher Hubert Hendler verbinden kann, verläßt Böll sich nicht auf die beiden Kurzzeit-Liebenden (« Er kam mit einem Seufzer in sie, sie in ihn"), auch nicht auf seine Erzählergabe, sondern er macht eine satirische Zangenbewegung.

Sabines Mann, der Textil-Tycoon Erwin Fischer, Inhaber der Firma »Bienenkorb"' wird uns als Blendax-Scheusal vorgestellt, Porno inbegriffen. Helga hingegen, die Polizistenfrau, wünscht der bewunderten Rivalin, daß ihr Hubert bei der anderen »Erfüllung« finde -- edel sei der Mensch, hilfreich und gut. Böll erzählt nicht mehr, er behilft sich mit Stereotyp-Kennzeichnungen wie »zynisch«, »nett«, »frivol«, »ernst«, »süß«.

Was soll man von einer Paradefrau denken, die sich dem nicht mehr geliebten »Bienenkorb«-Textiler zwar noch »hingibt«, ihm aber nicht mehr »anheimfällt«? Und was von einer »Bienenkorb«-Reklame' wo eine Frau nackt in einen Bienenkorb hineingeht und bekleidet wieder herauskommt?

Sagen wir's mit Böll, der jetzt mal verschnaufen und wieder zu Kräften kommen sollte: Da helfen, wie die verzweifelte Polizistenfrau Helga erkennt, »weder Mutter Gottes noch Porno-Welle, nicht Sex-Befreiung, Staat oder Kirche«. Vielleicht hilft da nur noch die Braunkohle.

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