MEDIZIN / ABTREIBUNG Geschenk des Himmels
Das Arsenal gängiger Anti-Baby-Hilfen lag vor den Zuhörerinnen ausgebreitet. Anatomische Schautafeln zierten die Wände.
Etwa 150 Jugendliche füllten den Vortragssaal im Haus der Hippie-Zeitschrift »Free Press« in Washington, als Miß Patricia Maginnis, 39, Vizepräsidentin der kalifornischen »Vereinigung für die Aufhebung der Abtreibungsgesetze«, ihren Kurzlehrgang eröffnete. Thema: Abtreibung im Do-ityourself-Verfahren.
Am selben Tage diskutierten im Hilton-Hotel der amerikanischen Bundeshauptstadt 73 Theologen, Psychologen, Mediziner, Juristen und Sozialwissenschaftler aus den USA und Europa mit 1500 Wirtschaftsführern dasselbe Thema: Schwangerschaftsunterbrechung -- moralisch, medizinisch, soziologisch.
Beide Versammlungen, bei den Hippies wie im Hilton, machten deutlich, daß sich die Fronten im moralischen Stellungskrieg um das Problem der Abtreibung zu lockern beginnen. Sieben Jahre nach dem Anbruch des Zeitalters der Pille sieht sich sogar die katholische Kirche genötigt, in der Abtreibungsfrage Zugeständnisse zu erwägen.
Weit über die Grenzen des bislang Erlaubten wagte sich Miß Maginnis in ihrem Unterweisungskursus vor. Die Abtreibungsvorkämpferin gab ihren Zuhörerinnen Tips, wie sie bereitwillige Ärzte im In- und Ausland finden könnten, wie sie etwaige Fragen der Polizei unverfänglich zu beantworten hätten, und verriet ihnen schließlich auch, auf welche Weise sie eine unerwünschte Schwangerschaft notfalls eigenhändig beenden könnten.
Miß Maginnis sprach aus Erfahrung. Wegen illegaler Abtreibungs-Propaganda hat sie in einem kalifornischen Gefängnis eingesessen; zweimal mußte sie (nach verunglückten Selbsteingriffen) ins Krankenhaus. Solche Risiken achtet Miß Maginnis gleichwohl gering gegenüber der Zumutung, die »Krankheit« einer unerwünschten Schwangerschaft auf sich nehmen zu müssen und damit als menschliches »Zuchtschwein« ("brood sow") mißbraucht zu werden.
Ohne derart krasse Formulierungen, doch in der Sache kaum weniger freimütig, diskutierten die Teilnehmer der internationalen Abtreibungskonferenz im Washingtoner Hilton.
Vor allem manche katholische Theologen zeigten sich, wie das Nachrichtenmagazin »Newsweek« konstatierte, »bemerkenswert offen« für eine nüchterne Abwägung der Interessen von Ungeborenen und Eltern. Einige waren bereit, den Respekt für das Leben des Fetus unter Umständen geringer einzustufen als die »Achtung für eine (durch die Schwangerschaft gefährdete) Mutter oder Familie« -- so beispielsweise der holländische Moraltheologe William H. van der Marck.
Daß Abtreibungsverbote die Heiratsfreudigkeit und das Familienleben fördern könnten, wurde von dem Pädagogen Carl Kaysen, Direktor des Institute for Advanced Study in Prince-, ton, als Irrglaube entlarvt: Die meisten Frauen, die eine Abtreibung wollen, sind verheiratet und haben schon Kinder; für sie ist dieser Eingriff nur eine »zweite Verteidigungslinie gegen eine unerwünschte Schwangerschaft«, nachdem empfängnisverhütende Mittel versagt haben.
Gewichtige Gründe, die für den Abbruch einer Schwangerschaft sprechen, ergaben sich neuerdings aus einem Fortschritt der medizinischen Wissenschaft, über den Dr. Robert E. Cooke, Chef-Kinderarzt an der Medizinischen Fakultät der Johns Hopkins University, berichtete: Mit Hilfe neuartiger Untersuchungsverfahren vermögen die Ärzte bestimmte Formen von angeborenem Schwachsinn (Mongolismus) schon im Mutterleib festzustellen.
Bei Frauen über vierzig drohen solche Mißbildungen bei zwei Prozent aller Geburten. Vorläufig -- bis der. einst solche Schäden auch im Mutterleib repariert werden können -- ist Schwangerschaftsunterbrechung die einzige Möglichkeit, solches Ungemach zu vermeiden.
Die weitaus radikalste Forderung freilich erhob in Washington ein Jesuitenpater, Reverend Robert F. Drinan, Dekan der College Law School in Boston. Ihm erscheint eine selektive Abtreibungserlaubnis -- etwa wegen drohender Mißbildungen -- unheimlich. Richter und Mediziner seien mit solchen Entscheidungen gleichermaßen überfordert.
So empfahl der Jesuit statt dessen die generelle Freigabe der Abtreibung bis zum sechsten Schwangerschaftsmonat. Erst danach solle der Fetus dem gesetzlichen Schutz des Staates unterstellt werden. Die Folge, so meint Drinan, wäre kaum eine Erhöhung der Abtreibungsziffern, sondern lediglich eine Legalisierung der bislang heimlichen Eingriffe, deren Häufigkeit in den USA auf jährlich 200 000 bis über eine Million geschätzt wird.
Etwa 500 davon, so berichtete der amerikanische Medizinal-Statistiker Dr. Christopher Tietze, enden tödlich für die Schwangeren. Diese Feststellung widerlegte eine verbreitete Legende: Die von konservativen Angst-Propagandisten in Umlauf gesetzte Zahl von 10 000 Todesfällen pro Jahr (in den USA) hält Tietze für »den Gipfel an Unfug«.
Dieselbe Sterbeziffer -- 10 000 je Jahr -- ist auch für die Bundesrepublik gelegentlich behauptet worden (geschätzte Zahl der Abtreibungen: zwischen 100 000 und einer Million). In Wahrheit weist die Bundesstatistik in der Rubrik »Komplikationen in der Schwangerschaft und Fehlgeburten« für 1964 insgesamt 252 Todesfälle aus.
Freilich, selbst dieses Rest-Risiko, kaum höher als das bei normalen Geburten, könnte womöglich schon in absehbarer Zukunft vollends schwinden -durch eine Erfindung, die zugleich den Streit um die Legalität von Abtreibungen unversehens überflüssig machen könnte: Letzte Woche kamen aus Schweden erste Nachrichten über die Entdeckung einer verläßlichen Abtreibungspille, die sich in Tierversuchen bereits bewährt habe.
Ein »Geschenk des Himmels« nannten die Forscher der schwedischen Pharmazie-Firma Ferrosan jene Substanz, die jedes neue Leben unmittelbar nach der Befruchtung buchstäblich im Keim erstickt. In Washington brachte ein amerikanischer Theologe, Professor R. Paul Ramsey von der Princeton University, solche Pharma-Produkte zur Sprache.
Ramsey: »In ein paar Jahren wird es sichere Medikamente zur Do-ityourself-Abtreibung geben.« Dann aber werde die Abtreibung -- und sei es auf dem Umweg über Pillen-Schwarzmärkte -- »vollends in die Intimsphäre ausweichen, dem Zugriff des Gesetzes ein für allemal entzogen«.