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Geschichten von tausendundeiner Fahrt

aus DER SPIEGEL 8/1978

Kamerad Charly hat ein Bein schon im Grabe. Es ging ihm verloren, als er im letzten Sommer seiner 750er zuviel Stoff gab. Da hob sich das Vorderrad vom Boden, die ganze Maschine strebte himmelwärts. Weil aber, trotz vieler Versuche, noch kein Motorrad in die Erdumlaufbahn eingeschwenkt ist, blieb auch Charly zwischen Stock und Stein.

Im Krankenhaus sägte ein gemütsarmer Chirurg aus dem Rest vom rechten Bein einen handlichen Oberschenkelstumpf.

»Wat soll ick machen?« fragt der Amputierte die Kameraden beim »Elefantentreffen« am österreichischen Salzburgring. »Wenn ick die Prothese anschnalle, häng« ick nach rechts. Wenn ick sie nich anschnalle, häng« ick nach links über.«

Auf der Suche nach dem verlorenen Gleichgewicht traf Charly einen Meldefahrer aus dem letzten Krieg. Der alte Mann riet zu einem balancefähigen Kompromiß. Seither fährt der 23jährige Berliner ein schweres Motorrad mit Beiwagen, einen »Elefanten«.

Die alte BMW ist grau und grün gestrichen, fast 20 Jahre alt, ein Fossil aus großer Motorradzeit. Weil Charly als Einbeiniger keine Arbeit mehr kriegt, vom sozialen Netz eher ein- als aufgefangen ist, hat er reichlich Zeit für sein Gerät. Jede Schraube ist nachgezogen, und in elf Stunden schrubbte Charly am vorletzten Wochenende von Berlin nach Salzburg, 724 Kilometer im Stück, sechs Grenzkontrollen, »alles astrein«.

Es ist dunkel, als er ankommt, und zwölf Grad kalt. Vor dem verschlossenen Tor des »Salzburgringes«, einer umzäunten Rennstrecke, brennen zwei Dutzend Lagerfeuer. Einige hundert Kameraden haben sich schon in den Schnee eingegraben, Zelt an Zelt, fest entschlossen, ihr »Elefantentreffen« zu feiern, drei Tage lang. Dieses Fest hat kein Programm und keinen Organisator, es gibt weder Strom noch Klo, dafür reichlich Naturgewalten und den Widerstand der Staatsmacht.

Im letzten Jahr nämlich, als sich die Elefanten und ihre Treiber, dazu ein paar tausend Gaffer am Nürburgring versammelt hatten, ging ein sehr kommerzielles Festzeit zu Bruch. Bis nach Salzburg hat sich mittlerweile herumgesprochen, was in der Eifel sonst noch vorgefallen ist: »Stell"n sich vor«, sagt der Herr österreichische Zollinspektor am Grenzübergang Schwarzbach, »die ham oan privaten Wald abgeholzt, oan privaten!« Und außerdem? »Einer von denen ist erschossen worn« -- von einem Polizisten in Zivil.

Weil weder deutsche noch österreichische Behörden einen neuerlichen Baumfrevel dulden wollten, lagern die Kameraden dieses Jahr ein bißchen außerhalb der Legalität -- von der Gendarmerie gebührenfrei verwarnt, von den Bauern gegen Bargeld mit Brennholz versorgt.

Innerlich heizt man mit Obstler ein. Die Stimmung ist prächtig. Jeder Neuankömmling wird freudig begrüßt. Kamerad Charly hat für die letzten hundert Meter mit ordentlich Zwischengas in den ersten Gang zurückgeschaltet, damit ihn keiner überhört.

Er ist so steifgefroren, daß er nicht absteigen kann. Wenigstens kippt er am Ziel nicht um, dafür sorgt sein Beiwagen. Zwei Kameraden heben ihn vom Bock. Wegen seiner aufgesprungenen Lippen nimmt er die angereichte Schnapsflasche wie ein Säugling die Mutterbrust.

Auch sonst bedarf er als Wickelkind der Hilfe. Man peilt ihn aus der äußeren Plastikhülle, doch vergebens zippelt Charly mit seinen rundgefrorenen Fingern am Reißverschluß der Hose. »Hättste dir doch ne Braut mitbringen sollen«, rät ein schon Durchgewärmter. Schließlich wird Charly abgehalten.

Er hustet und rotzt. Erst nach Minuten hat der kesse Berliner seine Sprache wieder. Erste Frage: »Ist der Taucher schon da?« Der Taucher ist ein legendärer Elefantentreiber aus dem Raum Braunschweig, der vor Jahren bei der Erstüberquerung eines zugefrorenen Sees beinahe für immer untergegangen wäre. Sein Gespann blieb unter Wasser. Der Taucher ist noch nicht da, soll aber hinter Würzburg schon gesichtet worden sein.

Dafür kampieren in einem flachen Rundzelt zwei Finnen, die acht Tage für die Anreise brauchten. Es sind auch schon Franzosen aus den Pyrenäen da, Engländer aus Birmingham, Holländer, Belgier, Dänen und ein stoppelbärtiger Grauschopf aus Spaniens sonnigem Süden. Sag dem Abenteuer, daß wir kommen.

Nur die Kradmelder der großdeutschen Wehrmacht fehlen diesmal. Sie haben das »Elefantentreffen« vor 22 Jahren begründet, vornehmlich wohl, um sich gemeinsam an Väterchen Frost und Mütterchen Rußland zu erinnern -- wer hat uns besiegt? Auch in diesem Jahr lebt das Treffen vom Gespräch, den Geschichten von tausend- undeiner Fahrt.

Vielleicht gäbe es ja gar keine Motorradfahrer, die mitten im kalten Winter, wohl auch die halbe Nacht, Tausende von Kilometern hinter sich bringen, wenn man nicht davon erzählen könnte. So aber warten am Ziel der Strapaze die Gleichgesinnten, ein jeder Zuhörer so gut wie Fabulierer.

»Ich habe unterwegs einen Anhalter mitgenommen, einen dicken«, berichtet ein Kamerad, »und dann ordentlich Stoff gegeben.« Nach hundert Kilometern sei der Gast im vibrierenden Beiwagen so aus der Form gegangen, daß schließlich drei Tankwarte Mühe hatten, den Mann aus der Blechhülle wieder herauszuziehen.

Gewöhnlich dreht sich das Gespräch um die selbstfabrizierten Komplikationen und ihre Bewältigung. Wie man ohne Benzin von der Autobahn kommt und mit dem Krad aus dem Sumpf; wann aus einer verrußten Kerze doch noch ein Funke zu schlagen ist; ob es sich lohnt, vor dem TÜV Sand in die Bremstrommel zu tun und Stahlwolle in den Auspuff. Vor allem: Wie man sich vor der Kälte schützt. Die banale Antwort -- umsteigen in ein Auto -- zählt nicht. Gesucht wird nach Lösungen, die zugleich frostigen Fahrtwind und einen warmen Leib garantieren.

Der Taucher, endlich eingetrudelt, präsentiert seine schwieligen Hände. Sie zeigen frische Brandblasen. Der Heizdraht, den er aus einem alten Bügeleisen gezogen und um die Lenkerenden gewickelt hat, war ein bißchen zu kurz. Er wurde so heiß, daß der Gummi sich nun scheibenweise wie bei einem Schaschlik abziehen läßt. Alles freut sich. So soll es sein: Zwei Stunden schlossern, eine Stunde fahren.

»Du hättest dir Kanthaidraht besorgen sollen«, rät ein Mädchen. Sie darf den Mund aufmachen, weil sie keine »Braut« ist, die nur mitfährt, sondern selber am Gasgriff dreht. Ihr Prestige ist nicht verliehen, sondern erfahren. Deshalb wiegt sie auch mehr als 50 Kilo.

Eine gewöhnliche Motorradbraut sollte diese magische Grenze nicht überschreiten, weil jedes Pfund das Hinterrad beschwert. Nur mit einem leichten Mädchen im Rücken hat der Fahrer eine faire Chance, allfällige Wettfahrten auch mal zu gewinnen.

Vor der Polizei fürchtet sich dabei keiner. Die uniformierten Verkehrswächter stammen, wie die meisten Motorradsünder, aus der Unterschicht. Man duzt sich sofort.

Auch für einen Polizisten ist das Motorrad der materialisierte Traum von der Freiheit. Es signalisiert Unabhängigkeit und Selbstbestimmung -- freilich nur auf der schmalen Haftgrenze zwischen Leben und Tod. Freude, womöglich nur Angstlust, erwächst aus der selbst dosierten und allein bewältigten Gefahr.

So was macht süchtig, nicht anders als Bergsteigen, Drachenfliegen, Tiefseetauchen oder Fallschirmspringen. Bei manchen Kameraden ist das Zweiradfahren deshalb zur überwertigen Idee ihres Lebens geworden, der alles nachgeordnet wird. An ihren Maschinen steht: »Live to ride Ride to live.«

Easy-Rider haben den festen Arbeitsplatz für immer verlassen, sind nicht mehr Lehrling oder Tiefbauarbeiter, sondern nur noch Motorradfahrer. Andere sagen den Zwängen jeweils für Monate Valet, gehen auf die Straße Richtung Süden. High sein, frei sein, Sonne muß dabeisein.

Die eher frostorientierte Nordlichtfraktion der Elefantentreiber fühlt sich indes am tiefverschneiten Salzburgring so heimelig, weil auch im Stand immerzu irgendwelche Komplikationen erkannt und gemeinsam aus der Welt geschafft werden. Niemand ist Herr, keiner ist Knecht -- Last und Lust gemeinsam tragen.

Im »Gasthaus zum Kirchenwirt und Fleischhauerei des Johann und Kathi Fuchs« zu Koppl bei Salzburg rücken in der Nacht zum Sonntag Kameraden und Bräute dicht aneinander, so daß endlich allen warm wird. Auf einer Leinwand flimmern Motorradfilme. Trotzdem fallen etlichen die Augen zu und der Kopf auf den Tisch. Manche sind seit 60 Stunden ohne Schlaf.

Selbst die wildesten Gestalten -- Rockerjacke, Dolch am Gurt -- zeigen im Gedränge keinen Zorn. »Motorradfahrer sind Menschen«, hat ihnen zur guten Nacht der evangelische Pfarrer Manfred Dörr aus Köln im Kirchlein gegenüber gepredigt, »die aus Freude etwas tun, nicht wegen des Nutzens.« Der Gottesmann, angereist auf einer »MZ 250": »Deshalb sind sie so hilfsbereit. Sie helfen, um zu helfen.«

Mein Vordermann, auf seiner Jacke ausgewiesen als »Höllenhund«, nimmt einen tiefen Schluck aus seinem Flachmann. »O Herr«, spricht der Pfarrer, »wenn es Dein gnädiger Wille ist, dann führe uns wieder zu einem Elefantentreffen zusammen.« Da faltet der Höllenhund, ganz frommes Lamm, die schweren Hände: »Wir bitten Dich, erhöre uns.«

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