YouTube-Jubiläum "Würden Sie gern 24 Stunden unter Beobachtung stehen?"

Kulturkritiker Savage: Demokratie im Internet ist noch nicht reif
Foto: Larry Busacca/ Getty Images
Jon Savage, geboren 1953, in London, ist ein britischer Kulturkritiker, Journalist und Buchautor. Bekannt wurde Savage für seine popkulturellen Beobachtungen in diversen Dokumentationen sowie seine Bücher "England's Dreaming" (1991) über die Anfänge der Punk-Bewegung und "Teenage: die Erfindung der Jugend" (2007), in dem er das Phänomen Erwachsenwerden begründet.
Savage: Undenkbar. Ich selbst arbeite seit Jahren an Musikdokumentationen. Anfangs schien YouTube eine wunderbar einfache Sache zu sein, weil man dort viele tolle Aufnahmen von früher fand, die es nirgendwo sonst gab.
SPIEGEL ONLINE: Und dass die Seite einen Koloss wie MTV überholen würde, konnte man ja auch nicht gleich vermuten.
Savage: Ich fand MTV nie wirklich gut. Ich erinnere mich an die Anfangsjahre des Senders: Man musste stundenlang warten, bis endlich das Video kam, das man sehen wollte. Zusätzlich hat MTV den fatalen Schritt getan, sich von seiner Kernkompetenz zu entfernen. Was war MTV denn? Music Television. Plötzlich liefen da sinnlose Reality-Shows anstelle von Musik...
SPIEGEL ONLINE: ...während man bei YouTube einfach den Künstlernamen eintippen und das Video seiner Wahl ansehen kann.
Savage: Genau. Wenn ich sehen will, wie James Brown 1966 bei seinen Auftritten aussah, kann ich das auf der Seite finden.
SPIEGEL ONLINE: Mit dem Aufstieg von YouTube hat sich eine neue Jugendkultur und sogar Branche entwickelt: Ein YouTube-Star zu sein, der Schminktipps gibt oder Videospiele bespricht, ist ein Vollzeitjob. Hat die Webseite das Verhältnis zwischen harter Arbeit und dem Streben nach Ruhm verändert?
Savage: Dass Teenager YouTube-Stars werden wollen, ist kaum überraschend in einer Gesellschaft, die das Berühmtsein so hoch hängt wie unsere. Wir dürfen nicht vergessen, dass Jugendliche in den meisten Fällen die Werte ihrer Umgebung widerspiegeln. Und wir leben nun einmal in einer Zeit, in der Prominenz als eines der höchsten Güter gilt. Sie finden ja auf YouTube im Grunde alles: Viele gute Parodien zum Beispiel, aber auch schreckliches Zeug - Dschihadisten-Videos, üble Propaganda. Es wird noch eine Weile dauern, bis sich das alles wirklich erklären lässt. Wir stecken mitten in einer technologischen Revolution, deren Bedingungen erst nach und nach klar werden.
SPIEGEL ONLINE: Ohne YouTube hätten wir bestimmte Bilder vom Arabischen Frühling nie zu Gesicht bekommen.
Savage: Das Konzept von der "Demokratie im Internet" halte ich für sehr unausgereift. Ich habe gerade das Buch "Das digitale Debakel" von Andrew Keen in der Hand gehabt, das die These vertritt, dass Demokratisierung durch das Internet etwas Illusorisches hat, weil allein die vier, fünf Internetriesen wie Facebook, Amazon oder Google das Geschehen bestimmen. Natürlich haben diese Firmen eine wahnsinnige Macht, andererseits gibt es immer wieder Möglichkeiten, Demokratie voranzutreiben. Aber im Internet ist auch sehr viel Raum für Dinge, die man nicht hören oder sehen möchte.
SPIEGEL ONLINE: Was nicht darüber hinwegtäuscht, dass wir zwar Teil dieser Community sind, aber nicht wirklich teilnehmen, weil wir allein vor unserem Bildschirm sitzen.
Savage: Es ist ja nicht schlimm, vor dem Bildschirm zu hocken. Das Problem des Internets ist eher die Dichte an Information, die lähmend wirken kann: Ein unendlicher Fluss an Eindrücken und Hinweisen - und das oft ohne Kontext. Genau darüber sprachen die Menschen damals, als Punk aufkam: Raffung von Inhalten und Verknappung unserer Aufmerksamkeitsspanne. Damit beschäftigen wir uns jetzt, 50 Jahre später, wieder.
SPIEGEL ONLINE: Wäre es also an der Zeit, unsere etablierte Vorstellung von Kommunikation zu überarbeiten, weil YouTube das Sitzen vor dem Bildschirm längst zu einer Form von Interaktion gemacht hat?
Savage: Natürlich hat das Internet Menschen einander auch nähergebracht. Aber es ändert nichts daran, dass der Bildschirm eine Art Trennwand zwischen Nutzern und der realen Welt darstellt. Das ist per se weder besonders gut noch besonders schlecht - so ist das Internet. Worauf es ankommt, ist vielmehr, eine sinnvolle Navigation durch das Netz zu finden.
SPIEGEL ONLINE: Mit YouTube haben Medien auch ein Stück weit ihre Funktion abgebeben, Informationen exklusiv an ihre Zielgruppe verbreiten zu können. Jeder kann scheinbar hinter die Kulissen gucken und sich seine eigene Meinung bilden.
Savage: Das ist kaum aufzuhalten. Wohin das führt, kann noch niemand genau sagen, weil niemand kontrolliert, was wo in welcher Form auftaucht. Fakt ist: Es passiert und Medien wie Mediennutzer müssen sich damit arrangieren.
SPIEGEL ONLINE: Heute hat jeder ein Smartphone, alles kann schnell online gehen. Wir kriegen mit, wie der zwölf Jahre alte Justin Bieber seine ersten Gesangsversuche hochlädt und finden gleichzeitig all seine Fehltritte auf YouTube.
Savage: Sicherlich. Obwohl Medien schon immer all diejenigen belohnt haben, die bereit waren, ihr Leben öffentlich zur Schau zu stellen. YouTube ist eine Verfeinerung dieses alten Spiels - aber eigentlich gar nicht neu.
SPIEGEL ONLINE: Dennoch hat YouTube dazu geführt, dass wir vorsichtiger geworden sind - bei allem, was wir tun und sagen. Weil alles überall aufgenommen und hochgeladen werden kann.
Savage: Diese Wahl hat Justin Bieber von Anfang an getroffen. Wenn man sich einmal für die öffentliche Entblößung entscheidet, lässt man sozusagen ein Tier von der Leine, das man nie wieder einfangen kann. Das beginnt aber bereits mit der Entscheidung für ein öffentliches Leben - nicht erst, wenn die Fehltritte bei YouTube hochgeladen sind.
SPIEGEL ONLINE: Ist das bei Politikern gut oder bedenklich, dass sie 24 Stunden am Tag unter Beobachtung stehen?
Savage: Würden Sie gerne 24 Stunden unter Beobachtung stehen? Ich sicher nicht.
SPIEGEL ONLINE: Nein, aber Sie und ich stehen auch nicht durch unser Amt zwangsläufig in der Öffentlichkeit.
Savage: Niemand sollte ständig von der Öffentlichkeit begutachtet werden. Jedem Menschen sollte man mal eine Pause gönnen. Es sei denn, wir sprechen von Leuten wie den Kardashians, die sehr viel kaputt gemacht haben, weil sie die Vorstellung fördern, dass es sich lohne, ein Leben in der Öffentlichkeit auszuleben. Was kompletter Blödsinn ist.
Zum YouTube-Jubiläum haben wir Mitglieder der SPIEGEL-ONLINE-Redaktion nach ihren Lieblingsclips gefragt: Welches Video lohnt sich, welcher Kanal ist ein Abo wert?
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