
Achtundsechzigerfresser Sie sind wieder da

Es gibt in Deutschland das Berufsfeld des Achtundsechzigerfressers. Meistens weiße Männer zwischen 50 und 60, alt genug, um das Geltungsbewusstsein der Nichtdabeigewesenen in sich zu spüren und jung genug, aus dem Nichtdabeigewesensein eine Karriere zu machen.
Man findet sie in den verschiedensten Branchen und in den unterschiedlichsten Ausprägungen, diese Achtundsechzigerfresser. Sie haben Ups und Downs, und gerade haben sie - jubiläumsbedingt und weil der Zeitgeist auf rechts dreht - ein Up, das heißt, dass sie sich besonders wohl fühlen in ihren Vorurteilen.
Denn das ist ja eines der Probleme mit den Achtundsechzigerfressern, dass sie in einer Vergangenheit leben, die es nie gab, seltsam unangetastet durch eine Welt oder Wirklichkeit, die sich ständig verändert; sie waren post-faktisch lange vor post-truth.
Depressive Grundstimmung von halb gelesenen
Ihre prägenden biografischen Erlebnisse hatten sie Anfang der achtziger Jahre, als sich die utopische Strahlkraft von 1968 unter der polizeistaatlichen Repression verloren hatte und eine depressive Grundstimmung von halb gelesenen Büchern und halb gelebten Leben zurückblieb, mit der sie nichts zu tun haben wollten.
Sie wirkten einfach nicht besonders glücklich, diese geschlagenen, geschiedenen Verlierer einer Revolution, die ihnen über den Kopf gewachsen war, sie waren traurig und ermattet, nach einem Jahrzehnt des Quatschens und Diskutierens, sie sollten jetzt endlich mal Platz machen für die Nächsten, für sie - aber, verdammt, diese müden Erscheinungen waren, wenn man den Achtundsechzigerfressern glaubt, überall.
Jedenfalls wenn man überall mit Sozialkundeunterricht definiert; denn der duzende Junglehrer war scheinbar die traumatischste Erfahrung dieser Generation, die durch ihre absolute Nichttraumatisiertheit immun zu werden drohte gegen jeden Selbstzweifel und gegen jeden Sinn für Vorher, Nachher, die Anderen, Gemeinschaft, Verantwortung, Politik.
Sie, die die Nase rümpften über die Atomproteste von Wackersdorf oder Brokdorf, weil das für sie nur ein Reenactment der Schützengräbenerlebnisse der Vätergeneration war, verfingen sich selbst in einer Logik von Freund und Feind, die eine aggressive Energie erzeugte, die einem gut bekommt, wenn man jung ist, aber eher schwierig ist im Alter, wenn die Energie abnimmt.
Ungenauer Blick auf 1968
Was bleibt, ist die Verhärtung. Was bleibt, ist eine Weltsicht, die nicht von der eigenen Geschichte lassen will, von der eigenen Erinnerung, die man für die Welt nimmt. Was bleibt, ist ein ungenauer Blick auf 1968, das in der Interpretation der Achtundsechzigerfresser von einem globalen Ereignis auf etwas reduziert wird, das in den Kinderzimmern des deutschen Bürgertums geboren wurde.
Das ist das in der gegenwärtigen politischen und publizistischen Auseinandersetzung so beliebte Mittel der Inversion, bei der die eigene Ignoranz oder Biografie zur Grundlage des Vorwurfs gegen die andere Seite gemacht wird, der man, wenn sie etwas antworten will, gleich noch vorwirft, sie würde die eigene Redefreiheit unterdrücken.
Der Achtundsechzigerfresser in seiner beleidigten oder gekränkten Variante geht oft auf diese Weise vor; die anderen aber, die entspannten, erfolgreichen, etablierten Achtundsechzigerfresser, die es sich so bequem eingerichtet haben in ihren Ressentimentstuben, haben es viel grundsätzlicher geschafft, die Demokratie in diesem Land zu verändern.
Sie, die ihren Marsch durch die Institutionen in den achtziger Jahren begannen und in den neunziger Jahren ihre volle Wirkung entfalteten, haben die Blasiertheit dieser windstillen Zeit mit in eine Gegenwart genommen, die ganz anders funktioniert, in der sich ganz andere Fragen stellen.
Denn einerseits machen die Attacken gegen die Demokratie von rechts und aus der Mitte heraus eine andere Reaktion als nur Schulterzucken erforderlich. Und andererseits lässt die Krise des Kapitalismus manche Ideen wieder aktuell werden, die schon 1968 aktuell waren: gemeinschaftliches Wohnen, gemeinschaftliches Eigentum, andere Formen der politischen Repräsentation und Partizipation.
Es wäre also an der Zeit, dass die Achtundsechzigerfresser aufwachen und sich von ihren Lieblingsfeinden verabschieden, die vor allem der eigenen Selbstdefinition dienten, und sich etwas genauer mit dem beschäftigen würden, was nicht nur die späten sechziger Jahre ausmachte:
Rassismus etwa, Kriege und Krisen der Entkolonialisierung, die Kybernetik, die keine Lehre der Maschinenherrschaft ist, sondern ein Versuch, die Welt als System zu sehen, in dem alles miteinander zusammenhängt.
Es wäre auch an der Zeit, ein paar der Leseerfahrungen zu überprüfen, die sich mit den Jahren zu einem intellektuellen Bild verdichtet haben, wonach die Welt alles ist, was die Oberfläche ist - dabei ist das Erbe einer bestimmten Art von Postmoderne gerade das Gegenteil, die historische Analyse der Praktiken von Macht, von Kontrolle, von der Ordnung des Systems.
Ästhetik war ihr Weltzugang
Aber viele der Achtundsechzigerfresser oder, seien wir ehrlich, weite Teile dieser Generation überhaupt, haben anscheinend verlernt, die Welt politisch zu sehen - die Ästhetik war ihr Weltzugang, hinter ihr verschwanden die ökonomischen oder politischen oder ideologischen Grundlagen, auf denen die Welt aber beruht.
Sie hatten sie abgeschafft, diese Welt in ihren Konflikten, und als sie dann zurück kam, diese Welt mit ihren Gefahren, da waren sie nicht mehr in der Lage, angemessen zu reagieren - sie sind ratlos, wenn es um die grundsätzlichen Fragen von Gesellschaft oder Gemeinschaft geht, es kommen kaum Ideen, aus der Last der eigenen Lethargie scheinen die alten Fehden der einzige Ausweg.
Die regressive Öffentlichkeit, die dadurch entsteht, wiederum neigt durch Sauerstoffmangel zu Hyperventilation, der Stress steigt, je mehr die Unsicherheit auch über die eigene Position zunimmt - manche Exzesse gegen ganz normale Emanzipationsprozesse sind dadurch zu erklären, Geschlechtergleichheit etwa oder die rassistische Rede und Praxis.
Die Achtundsechzigerfresser sind in Gestalt und Wesen zu denen geworden, die sie kritisieren oder bekämpfen wollten, verwandlungsresistent, egozentrisch und zukunftsfeindlich in der Mitte der Gesellschaft. Sie haben eine Ideologie der Ideologielosigkeit propagiert, die das Land in ein Lummerland verwandelt hat, wo das Phlegma noch das größte Leid in eine lästige Ruhestörung verwandelt und auch die politische Rechte vor allem als Oberflächenreizung verstanden wird.
Sie wollen nicht sehen, dass es Zeit ist, Platz zu machen für andere Ideen und jüngere Menschen. Zeit, für die Ideale zu kämpfen, die man erst einmal haben muss.