
Ohnesorg-Todesschütze: Karl-Heinz Kurras' Stasi-Kontakte
68er-Debatte Alle Stasi außer Mutti
Berlin - Es sieht nicht so aus, als ob Bescheidenheit zu den Tugenden von Sven Felix Kellerhoff zählen würde. Der "Leitende Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte" der "Welt", "Welt am Sonntag" und "Berliner Morgenpost" hat gerade ein Buch veröffentlicht, in dessen Einleitung er schlicht und ergreifend fordert: "Notwendig ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Generalrevision der bundesdeutschen Geschichte bis 1989/90."
Starker Tobak, mit dem der Springer-Mann unter dem Titel: "Die Stasi und der Westen. Der Kurras-Komplex" aufwartet. Der Generalrevisionist Kellerhoff versucht mehr, als nur die Geschichte des West-Berliner Kriminalpolizisten und Stasi-Spitzels Karl-Heinz Kurras zu erzählen, der am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschoss und damit für die Initialzündung der Bewegung der "68er" sorgte. Der Springer-Redakteur möchte endlich mit drei Mythen aufräumen, die seiner Meinung nach die "öffentliche Wahrnehmung" prägen, obwohl die "tatsächlichen Fakten" schon lange bekannt seien.
Mythos Nummer eins ist nach Kellerhoff, dass es keine ordentliche juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen in der Bundesrepublik gab. Tatsache sei vielmehr, "dass es nie in der Weltgeschichte einen Rechtsstaat gegeben hat, der die Untaten der vorangegangenen Diktatur mit größerem Atem und höherem Aufwand zu verfolgen versucht hat".
Der zweite zu enttarnende Mythos ist laut Kellerhoff "die Behauptung, die Bundesrepublik der Ära Adenauer sei restaurativ gewesen" und die Rebellen von 1968 hätten "für eine 'liberale Umgründung' oder gar eine 'Kulturrevolution'" gesorgt. In Wahrheit sei die westdeutsche Gesellschaft in den fünfziger Jahren viel liberaler gewesen als die der Weimarer Republik.
Als dritter Mythos habe sich "entgegen allen Fakten" die Ansicht gehalten, das unbeirrbare Bestehen auf dem Ziel der deutschen Einheit sei spätestens seit Anfang der sechziger Jahre ein Irrweg gewesen. Besonders ärgert es den Springer-Angestellten, dass es weiterhin zu "Diffamierungen zum Beispiel des Verlegers Axel Springer als 'Brandenburger Tor'" komme, "der die vermeintlichen Zeichen der Zeit verkannt habe".
Hausaufgabe vom Springer-Chef?
Die Einleitung liest sich so, als habe sie der Vorstandsvorsitzende der Axel Springer AG, Mathias Döpfner, als Hausaufgabe bestellt. Im Juni 2009 - die Spitzeltätigkeit des Todesschützen Kurras für die Stasi war gerade bekannt geworden - hatte Döpfner nämlich über die Bewegung von 1968 orakelt: "Es wäre sicherlich mit voller Kenntnis dieser Zusammenhänge nicht zu den einseitigen Feindbildern und damit auch nicht zu den Eskalationen gekommen." Kurras sei "von der DDR gesteuert" gewesen.
Döpfner weiter: "Die sozialistische Propagandamaschine war unglaublich effizient, sie hat das Geschichtsbild der Bundesrepublik bis heute in einem Maße geprägt, das wir uns überhaupt nicht vorstellen können." Kurz gesagt: Alle Stasi außer Mutti.
Kellerhoff baut nun dieses Szenario aus: Ohne den Tod von Ohnesorg "wäre es vielleicht nie zu jener Bewegung gekommen, die als 'Achtundsechzig' bekannt wurde", heißt es da. Historiker hüten sich normalerweise vor solchen Spekulationen.
Zu erinnern ist der Springer-Mann, Jahrgang 1971, daran: Die Bewegung von Studenten und Jugendlichen, die 1968 weltweit kulminierte, begann 1964 im kalifornischen Berkeley mit dem "Free Speech Movement"; sie ergriff auch Länder wie Polen, Jugoslawien oder Mexiko. Die Jugendlichen in aller Welt protestierten gegen überkommene Strukturen an den Universitäten und gegen den Krieg der USA in Vietnam. Niemand brauchte Führungsoffiziere der Stasi, die den Einsatzbefehl zur Revolte erteilten.
Wie bei anderen Autoren, die eine Überdosis Stasi-Akten konsumiert haben, wird auch für Kellerhoff der ostdeutsche Geheimdienst zum klandestinen Lenker der deutschen Geschichte seit 1945. "Ohne die Unterstützung des MfS wäre der westdeutsche Linksterrorismus nie zu der Bedrohung für den Rechtsstaat Bundesrepublik geworden, der er tatsächlich war." In Tat und Wahrheit war für die RAF-Terroristen ihre Allianz mit palästinensischen Gruppen von strategischer Bedeutung. Zur DDR hielten die RAF-Kader aufgrund ideologischer Differenzen Abstand und kooperierten nur begrenzt mit der Stasi.
Einseitige Recherche, einseitige Darstellung
Während dies Fragen der Einschätzung und Analyse sind, über die gestritten werden kann und sollte, ist ein anderer Effekt von Kellerhoffs Kampf gegen Mythen bedenklicher. Seine Schilderungen von Ereignissen sind einseitig selektiv. So ist durch etliche Aussagen belegt, dass am Abend des 2. Juni 1967 das unter den Polizisten kursierende Gerücht, ein Kollege sei von Demonstranten erstochen worden, das brutale Vorgehen befördert hat. Doch Kellerhoff erwähnt nur beiläufig, dass die Polizei dieses Gerücht später nicht erhärten konnte.
Sachlich zumindest zweifelhaft ist Kellerhoffs Darstellung, dass bei der Obduktion von Ohnesorgs Leiche ein Stück aus der Schädeldecke herausgesägt worden sei. Das Knochenstück, durch das das tödliche Projektil in Ohnesorgs Kopf eingetreten war, hatten vielmehr Ärzte - zum Ärger des obduzierenden Gerichtsmediziners - schon am Vorabend entfernt.
Dies sind Petitessen. Schwerer wiegt Kellerhoffs Verschweigen der Tatsache, dass Hans-Ulrich Werner, der Kommandeur der West-Berliner Schutzpolizei und Planer des fatalen Polizeieinsatzes, im Zweiten Weltkrieg von Heinrich Himmler, dem Reichsführer SS, mit dem Eisernen Kreuz für seine Verdienste bei der "Bandenbekämpfung" - sprich der Ermordung von Partisanen und Juden - ausgezeichnet wurde.
Die einseitige Darstellung basiert auf einer einseitigen Recherche. In Kellerhoffs Liste der Quellen taucht das "APO-Archiv" der Freien Universität Berlin, in dem zahlreiche wichtige Dokumente zum 2. Juni 1967 lagern, nicht auf. Es ist auch nicht erkennbar, dass Kellerhoff mit einstigen Akteuren der Studentenbewegung gesprochen hat.
Jenseits der nicht endenden Debatte, was 68 in der deutschen Westrepublik war, was es bewirkt hat und wie das wiederum zu bewerten ist, erteilt uns Sven Felix Kellerhoff eine wichtige Lektion: Geschichtsschreibung sollte nicht als Ideologieproduktion betrieben werden. Was auch Arnold Schwarzenegger erkannt hat, der einmal sagte: "Man darf sich auf seine Ideologie nicht versteifen."
Sven Felix Kellerhoff: "Die Stasi und der Westen. Der Kurras-Komplex": Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 352 Seiten, 23 Euro.