Datenlese Am Stammtisch der "Bild"-Zeitung

Die Rubrik "Gewinner/Verlierer" ist eine Institution: Seit mehr als zehn Jahren erscheint sie auf der Titelseite der "Bild". Wir haben analysiert, wie Politiker und Parteien bewertet wurden. Wie "überparteilich" ist die Zeitung wirklich?
Boah, so lange Texte! Ein Artikel auf Seite 3 in der "Süddeutschen Zeitung" mit über 17.000 Zeichen, SPIEGEL-Titelgeschichten mit über 40.000 Zeichen. Mit solchen Textlängen traktiert "Bild" die Leser ungern. Im Gegenteil: Eine Rubrik, seit 2002 auf Seite 1 des Blattes zu Hause, erklärt selbst schwierige Sachverhalte vermeintlich mühelos auf der Fläche weniger Briefmarken. Es geht meist um Personen, eingeteilt in zwei Kategorien: Topf 1 füllt "Bild" mit "Gewinnern", Topf 2 mit "Verlierern". Kurzer Prozess, das Urteil steht nach rund 350 Zeichen fest.
Dokumentare des SPIEGEL haben die Texte der Rubrik seit Mai 1997 ausgewertet. Schnell fiel auf: Bevorzugte Kandidaten sind Politiker. In fast 2.200 von insgesamt rund 10.000 Texten der Rubrik knöpft "Bild" sich diese Gruppe vor. Da die Zahl der Texte groß und die Urteile klar als positiv und negativ gekennzeichnet sind, eröffnet sich hier die Möglichkeit für einen Test: Stimmt das Versprechen im "Bild"-Titellogo, wonach das Blatt "überparteilich" berichte? "Wir betreiben keinen Kampfjournalismus. Springer führt Debatten und bezieht Positionen", sagte Vorstandschef Mathias Döpfner schon 2001.
Im Durchschnitt steht die Zeitung Politikern tendenziell kritisch gegenüber, nur 42 von 100 landen bei den "Gewinnern":
"Überparteilich" zu berichten hieße übertragen auf die Briefmarkenrubrik: Langfristig, über 16 Jahre und in Tausenden von Texten müsste das Verhältnis zwischen gefeierten und abgemeierten Mitgliedern der verschiedenen Parteien annähernd gleich sein - und dem Durchschnitt aller Parteien entsprechen. Tut er das?
Es scheint also, als könne von Gleichbehandlung keine Rede sein. Je weiter links ein Politiker steht, desto geringer erscheinen seine Chancen, zum "Gewinner" gekürt zu werden. Zwar beobachten einige Politologen seit Jahrzehnten, dass sich das althergebrachte Rechts-Links-Schema auflöse, vor allem weil sich die traditionellen Milieus der Parteianhänger in zahlreiche, politisch oft kaum verortbare Gruppen zersplittert hätten.

SPD und Union im Vergleich seit 1997
Foto: DER SPIEGELAn der "Bild" geht dieser Trend offenbar spurlos vorbei. Aber gibt es über die 16 hier betrachteten Jahre vielleicht doch eine Veränderung des "Bild"-Polit-Schemas?
Bei dieser Auswertung haben wir uns auf Union und SPD beschränkt, weil die absoluten Zahlen der kleineren Parteien keine sinnvolle statistische Aussage zulassen. Die Union liegt wenig überraschend meist vor der SPD, im Wahljahr 2013 vergrößert sich die Differenz. Zu Beginn der Rot-Grünen Koalition 1998 genoss jedoch die SPD drei Jahre lang einen Vorsprung von 11 bis 19 Punkten.
Mix aus läppischen und schwergewichtigen Urteilen
Statistik schön und gut, aber muss man das alles bierernst nehmen? Manche Texte der Rubrik sind erkennbar augenzwinkernd gemeint. Etwa wenn Horst Seehofer in den "Verlierer"-Topf gesteckt wird, weil er sich im Wahlkampf heiser geredet hat. In der Mehrzahl geht es aber um harte politische Themen wie das Ergattern von Ämtern und rechtliche Aspekte.
Wie beim Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft gegen den damaligen Linken-Parteichef Klaus Ernst 2010. Sie verdächtigte ihn der Untreue und des Betrugs. Ernst wurde zum "Bild"-"Verlierer". Allerdings war er aus juristischer Sicht zu diesem Zeitpunkt unschuldig. Erst wenn es ein Urteil gegeben hätte, welches rechtskräftig geworden wäre, hätte er als schuldig gegolten. Jedoch wurden die Ermittlungen zuvor eingestellt.
Ganz ohne juristisches Verfahren ereilte Hans-Christian Ströbele das Urteil der "Bild". Der Bundestagsabgeordnete der Grünen hatte gewagt zu sagen, dass er sich beim Anblick der vielen Deutschlandfahnen während der Fußballweltmeisterschaft "nicht so wohl" fühle. Zack! "Verlierer".
Einige Politiker tauchen immer wieder in der Rubrik "Gewinner/Verlierer" auf - sozusagen als Stammgäste der Schankwirtschaft auf der "Bild"-Titelseite. Wie schlagen sie sich bei der Topfzuweisung?
Kanzler oder Altkanzler zu sein, kann also nicht schaden. Nur mal Kandidat gewesen zu sein, reicht dagegen keinesfalls, wie das Beispiel Oskar Lafontaine zeigt. In ähnlicher Frequenz traten Gregor Gysi und Hans-Christian Ströbele auf, allerdings ohne Kanzlerbonus.
Wie die Kanzler spielt auch Otto Wulff zu Null. Nie gehört? Er ist CDU-Mitglied seit 1953, 40-facher Träger des Goldenen Sportabzeichens und schaffte es acht Mal in den "Gewinner"-Topf. Zielführend war etwa sein Wunsch, Helmut Kohl einen Brief mit dessen eigenem Bild auf dem Postwertzeichen zu schicken. Dafür benötigte Wulff eine Sondermarke, und zwar noch zu Kohls Lebzeiten. Allein dieser Vorschlag gereichte ihm zum Ritterschlag der "Bild". Den Beschluss fasste die CDU auf einem Parteitag erst zwei Monate später.
Zu den Rohdaten unserer Analyse...
Von Christina Elmer, Bertolt Hunger, Kurt Jansson und Mirjam Schlossarek