Abgehört - neue Musik Wenn Cowboys weinen

Vom depressiven Dasein als queerer Schwarzer erzählt Dev Hynes auf seinem neuen Album als Blood Orange. Mitski versucht eine tapfere Cowboy-Miene zum bitteren Liebesspiel. Und Young Thug? Knautscht Gummibärchen.

Blood Orange - "Negro Swan"
(Domino/Goodtogo, ab 24. August)

Lassen Sie sich nicht durch den entspannt gluckernden Yacht-Rock-Groove verführen. Kaum etabliert, ertönt ein langsam anhebender Moog-Sound wie eine sonore Alarmsirene. "Orlando" heißt dieser umschmeichelnde und zugleich beunruhigende erste Song auf dem neuen Album von Blood Orange. Devonté "Dev" Hynes singt dazu im traurigen Falsett einen erschütternd fatalistischen Text: "First kiss was the floor/ but god it won't make a difference when you don't get up". Und plötzlich weiß man, wo der funky Discobeat spielt: in dem queeren Nachtclub von Orlando, Florida, wo der Sicherheitsmann Omar Mateen 2016 49 Menschen tötete und über 50 weitere verletzte. Der "Kuss" mit dem harten Floor, sterbend oder blutend, das ist auch die Konfrontation mit einer tristen Realität, die Hynes als schwarzer, schwuler Mann in unserer Zeit wahrnimmt: Es macht keinen Unterschied, ob du wieder aufstehst; der Gesellschaft ist es im Zweifel egal.

"Orlando", einer der besten Tracks auf dem vierten Album, das Hynes als Blood Orange herausbringt, handelt aber nicht nur von dem Massaker, sondern auch von den schmerzhaften Erfahrungen mit Bullys auf dem Schulweg im Osten Londons, wo er in den Neunzigerjahren aufwuchs. "Negro Swan", eine Abwandlung von "Black Swan", was man als "hässliches Entlein" in deutsche Metaphern übersetzen könnte, sei "eine Erforschung seiner eigenen und vieler anderer Arten schwarzer Depression", sagte er dem "Observer" in einem Interview, "ein ehrlicher Blick in die dunklen Ecken schwarzer Existenz und die andauernden Ängste von queeren und andersfarbigen Menschen".

Hynes verfeinert und vertieft damit, was auf seinem meisterlichen vorherigen Album "Freetown Sound" als Identitätssuche und Auslotung seiner afrikanisch-karibischen Familienwurzeln begann. Wie schon damals nutzt er auch für "Negro Swan" das Hip-Hop-Stilmittel des Interludiums, um zwischen seine lyrisch verschlüsselten Songtexte konkrete Botschaften zu setzen. Audio-Schnipsel aus Gesprächen, die er mit der Schriftstellerin und Transgender-Aktivistin Janet Mock führte, erzählen, zum Beispiel in "Family", von Erfahrungen in der Otherness - und geben gleichzeitig Hoffnung, dass in der Gemeinschaft, egal ob aus Freunden oder Verwandten, Trost und Geborgenheit zu finden sind.

Aus diesem Wechselspiel von Ermutigung und Seelenpein schöpft dieses zurückhaltende und gedämpfte, aber letztlich sehr packende Album seine Spannung, die es über 50 Minuten trägt. Nur pointiert bedient sich Hynes dabei jener Zutaten, die ihn zunächst als Indie-Folk und Rock-Künstler (Test Icicles, Lightspeed Champion), dann als sensiblen R&B-Erneuerer bekannt und zum gefragten Produzenten machten (u.a. Solange, Haim, Tinashe). Etwa in "Saint", dem eindeutigsten Pop-Song des Albums, im fingerschnippenden "Nappy Wonder" oder im refrainstarken "Chewing Gum", das durch A$AP Rockys Gastrap einen zusätzlichen Hip-Hop-Vibe erhält.

Abseits solcher Crowdpleaser herrscht ein fast schon gediegener Sound vor, der immer wieder Funk-Gitarren und Saxophon einsetzt, um einen nostalgisch anmutenden Jazz-Flow zu erzeugen, der die frühen Sixties (man denke: "Maiden Voyage" oder den frühen Dolphy) bis in die Fusion-Ausläufer der Achtzigerjahre transzendiert ("Jewelry"); es ist Hynes' postmodern fragmentierte Art von spiritueller, afroamerikanisch inspirierter Musik, ein eleganter, sehr abgeklärter Gospel, in dem sogar Rap-Großmaul Puff Daddy einen überraschend demutsvollen Auftritt hat ("Hope").

"No one wants to be the odd one out at times/ No one wants to be the negro swan/ Can you break sometimes?", singt Hynes im zentralen Track "Charcoal Baby". Er sehnt sich danach, nicht jeden Morgen mit dem Gefühl aufzuwachen, am Rand zu stehen, nicht dazuzugehören. Das Talent, dieses Gefühl dieser "Alienation" in zutiefst berührende, Trost und Erlösung suchende Musik zu gießen, vereint ihn mit anderen Schlüsselkünstlern dieser vertrackten Zeit, mit D'Angelo und Kendrick Lamar, mit Frank Ocean und Moses Sumney. Sein Schwanengesang wird es - hoffentlich - nicht sein. (8.5) Andreas Borcholte

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Mitski - "Be the Cowboy"
(Dead Oceans/Cargo, seit 17. August)

Sie hatte sich in den Krieg verliebt, aber niemand hatte ihr gesagt, dass er längst vorbei war. "And it left a pearl in my head/ And I roll it around every night, just to watch it glow". Eine Perle im Kopf? Das tut doch weh, auch wenn sie noch so sehr leuchtet. Und manchmal fühlt sich Schmerz ja auch an wie ein Glühen. "The Pearl" ist nur einer von 14 kurzen Schmuckstücken auf Mitski Miyawakis fünftem Album, die genau diesen finsteren Glow aussenden: Happy, das stellte die US-Songwriterin bereits vor zwei Jahren auf "Puberty 2" klar, ist für sie ein Wort, das sich auf creepy reimt. Irgendwas reibt, reizt und piesackt immer, und im Zweifel gilt, was sie in "Lonesome Love" als träges Riot-Grrrl-Echo rauskräht: "Nobody fucks me like me".

Musikalisch hat sich Mitski jedoch des ostentativen Dröhnens und Rauschens ihrer Gitarren weitgehend entledigt, um sich öfter ans Piano, ihr Ur-Instrument, zu setzen - oder schlicht Räume zu lassen. Für den melancholisch-betörenden Disco-Pop von "Nobody" zum Beispiel, der an die Cardigans erinnert. Ihre Stimme, mit der sie ihre Screwball-Dramen vorträgt, und damit auch ihr Selbstvertrauen in die eigene Kraft als Lyrikerin, darf jetzt ganz im Vordergrund sein - und sich mit lakonischem Pathos, manchmal über Posaunen und Trompeten, dorthin jubilieren, wo Tori Amos einst den Grund bereitet hat für diese Art selbstermächtigender, aber immer auch selbstzerfleischender Weiblichkeitsmusik.

Mitskis Rettung ist ihr ätzender Humor: "And I'm the idiot with the painted face/ In the corner, taking up space/ But when he walks in, I am loved, I am loved", entlarvt sie Wifeys Aufrüschrituale, die sie auch auf dem Cover aufs Korn nimmt, als erbärmlich in "Me And My Husband". Oh, die Bitternis hinter dem tapferen Fassadengesicht des einsamen Cowboys. (8.0) Andreas Borcholte

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Young Thug - "Slime Language"
(Young Stoner Life Records/300 Entertainment, seit 17. August)

Wenige Musiker lassen sich so aufrichtig hassen wie Young Thug und sein überdrehter Kaugummi-Rap. Fakt ist aber auch: Der in Atlanta als Jeffery Lamar Williams geborene Rapper ist einer der einflussreichsten Künstler der vergangenen sechs oder sieben Jahre. Zugegeben, nicht in lyrischer Hinsicht. Da geht in seiner Musik nicht viel. Laut eigener Aussage braucht Williams nie länger als ein paar Minuten für seine Zeilen - und das merkt man.

Aber gerade in dieser völligen Verachtung der Hip-Hop-Traditionen des Storytellings hat der 27-Jährige einen revolutionären Stil geprägt. Zwischen den rhythmischen Beschwörungen lateinamerikanischen Reggaetons und der Stimmlage einer handelsüblichen Hundepfeife hat sich der Rapper einen mit Auto-Tune geschmierten Duktus zusammengeschustert, der klingt, wie eine Packung Gummibärchen schmeckt: wahnsinnig süß, immer wieder ein bisschen ekelerregend, aber aufhören kann man auch nicht.

Damit hat er eine ganze Reihe Newcomer dazu inspiriert, mehr Risiken einzugehen, ihre eigene Stimme zu finden und sich dabei endlich von überkommenen Hip-Hop-Narrativen über Männlichkeit und Härte zu emanzipieren. Ohne Young Thug gäbe es wohl keinen Lil Uzi Vert, keinen Lil Yachty und keinen Nothing, Nowhere.

Deshalb ist "Slime Language" nur konsequent. Das Album geht streng genommen nicht als sein sechstes durch, sondern ist eine erste Compilation seines unter den Fittichen der Trap-Fabrik 300 Entertainment gegründeten Labels Young Stoner Life. Das Ziel: jungen Talenten einen Entwicklungsraum geben, den sie sonst nicht hätten.

Eine gute Idee, die auf "Slime Language" jedoch zu eher durchwachsenen Ergebnissen führt. 50 Minuten lang schlurfen die wohl bekannten windschiefen Beats aus den Lautsprechern, berappeln sich aber zu selten zu mitreißenden Trap-Schmeißern ("Dirty Shoes" feat. Gunna) und immer wieder zum zähen Soundtrack für die substanzinduzierte Fahrstuhlfahrt in den Äther ("Oh Yeah" feat. HiDoraah).

Willams' immer noch erstaunliche stimmliche Vielseitigkeit kann solche Fehlgriffe zwar größtenteils noch retten, Newcomer wie Gunna, Karlae und Duke aber eben nicht. "Slime Language" liefert ihnen schlicht den falschen Klangteppich, um sich entfalten zu können. Denn letztlich ist es trotz neuer Aufmachung als musikalischer Schülerlotse ein neuerlicher Einblick in Young Thugs ganz eigene Welt - und in der findet sich offensichtlich niemand sonst zurecht. (6.5) Dennis Pohl

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Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)

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