Abschied eines Theaterstars Den Faust aufs Auge

Geronto-Tragödie, Liebesdrama, Bilderreigen: Mit einer buchstäblich geerdeten Interpretation von Goethes "Urfaust" verabschiedet sich Andreas Kriegenburg vom Hamburger Thalia Theater – und zieht noch einmal alle Register seines fulminanten Regie-Könnens.
Von Jenny Hoch

Man soll gehen, wenn es am Schönsten ist, heißt es. Der Regisseur Andreas Kriegenburg hat sich diese Redewendung zu Herzen genommen und für seinen glänzenden Abgang vom Hamburger Thalia Theater in Richtung Deutsches Theater Berlin ein eher düsteres, volkstümliches Stück gewählt: Johann Wolfgang von Goethes Fragment gebliebenen "Urfaust".

Nach sieben Jahren als Oberspielleiter, in denen er wegen seines verspielten, körperbetonten Regiestils und seines beherzten Zugriffs auf längst kanonisierte Stoffe vom gestrengen hanseatischen Publikum nicht immer nur beklatscht wurde, muss er sich gedacht haben: 'Die werden noch merken, was sie an mir hatten' – und tatsächlich hinterlässt er mit seiner Interpretation der selten gespielten Frühform der berühmt-berüchtigten "Faust"-Tragödie ein Erbe, das in puncto Fabulierlust, Bildmächtigkeit und Schauspielerführung schwer zu toppen ist.

Kriegenburgs große Kunst: Übergroße, überbeladene Stoffe auf ihren einfachen, zeitgemäßen Kern herunterzubrechen, ohne dabei ins Banale abzurutschen – und die herausdestillierten Konstellationen zu höchst aussagekräftigen und eigenständigen Szenen zu collagieren.

Im Fall der Hamburger "Urfaust"-Inszenierung auf der großen Bühne etabliert er gleich zu Anfang einen wohldosiert flapsigen Ton. Die Bühne ist dick mit braunem Sand bestreuten, Kriegenburg hat sie selbst entworfen. Mit ihren hohen Wänden, in denen lediglich zwei schießschartenartige Schlitze ein Draußen andeuten, wirkt die Spielfläche wie ein geerdeter Sakral-Bunker, auf ihr bemüht sich der alte Wagner (Markwart Müller-Elmau) minutenlang, eine Glühbirne zu wechseln. Schwankend steht er auf einer hohen Leiter und als er mit Hilfe eines bauernschlauen Tricks die Lampe an der hohen Decke endlich zum Brennen gebracht hat, spricht er endlich den ersten Satz: "Habe nun, ach! – die Birne gewechselt".

Das sorgt natürlich für Lacher, hat aber einen tieferen Sinn: Erleuchtung und Erkenntnis sind ohne ein Portion Erfindungsgeist und Pragmatismus nicht zu haben. Das weiß auch Faust, der sich deswegen umso leichtfertiger mit Mephisto verbündet. Der rastlose und libidinös nicht ausgelastete Gelehrte wurde mit gleich zwei Schauspielern besetzt. Im ersten Teil, aus dem Kriegenburg ganz auf der Höhe der Zeit eine Art Geronto-Tragödie gemacht hat, ist das die 78-jährige Katharina Matz, im Zweiten, dessen Fokus ganz auf dem Liebesdrama zwischen Gretchen und Faust liegt, spielt ihn der jungenhafte Hans Löw.

Fuck-Shit-Fick-Tiraden fürs Abo-Publikum

Und weil bei Senioren jede einzelne Verrichtung etwas länger dauert, zerdehnt Kriegenburg diesen ersten Teil bis zur Pause zu grandios-eindrücklichen Bildern. Der fulminant am Alter verzweifelnde Faust der Katharina Manz mag eben jenen berühmten Monolog "Habe nun, ach!..." nicht mehr über die Lippen bringen. Stattdessen hält sie ihn dem Publikum auf überdimensionierten Karteikarten voller Rechtschreibfehler hin und wird anschließend unter dem ganzen Papier begraben. Das ist wieder so ein Kriegenburg-Bild, plakativ zwar in seiner Aussage, aber ungemein treffend. Wie soll man diese Verse heute noch sprechen? Ist die Faust-Figur nicht längst begraben unter tausend Worten?

Es folgen die Geburt des Mephistopheles, den Natali Seelig mit weißer Glatze und braunem Anzug (Kostüme Andrea Schraad) als ungeschlechtlich schillerndes Wesen spielt. Gleich darauf die ungeheure Verjüngung des Faust, den Hans Löw als unbedarften Harmlosling mit vorgerecktem Kopf gibt, der sich zwar in melancholischen Grübeleien verlieren kann, alle Bedenken dann aber schnell beiseite wischt.

Schließlich lockt ihn ein echtes "hot chick". Verführerisch tanzt Lisa Hagmeister als Gretchen mit langen Zöpfen und einem feenhaft transparenten Kleid zu lauter HipHop-Musik. Faust ist begeistert, die will er haben und sonst keine. Mephisto muss helfen. Ein riesiges Himmelbett wird hereingetragen, von den Figuren verschämt "das Ding" genannt. Doch genau darum geht es, um Sex. Für den Regisseur ein willkommener Anlass, fröhliche Abonnenten-Provokation zu betreiben: In langen Fuck-Shit-Fick-Tiraden machen seine Schauspieler ihrem Trieb Luft.

Kriegenburg traut sich das einfach. Sorglos springt er zwischen hoher Verskunst und derber Gossensprache, Text- und Körpertheater, Bewegung und Statik, Lärm und Stille, Komik und Melancholie, zeitloser Verortung und modernem Regiestil hin- und her. Was er damit schafft, ist manchmal anstrengend und ungewohnt anzusehen, immer aber präsent und wohldurchdacht.

Am Ende geht Gretchen mit Mephistopheles in die Hölle, Faust, der doch immer alles bekommen hat, was er wollte, bleibt mit seinem Schmerz und einer großen Leere alleine zurück. Er muss sich fragen, ob er sein Leben vertan hat. Da sieht er, trotz seiner äußerlichen Jugend, plötzlich ganz alt aus.

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