Kommentar zum Anschlag in Paris
Wir alle sind Charlie
Der Anschlag auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" darf unser Denken nicht beeinflussen, weder das der Islamkritiker noch das der Muslime - sonst ist die Freiheit verloren.
Trauer in Paris: Pärchen mit "Charlie Hebdo"-Solidaritätsplakat
Foto: MARTIN BUREAU/ AFP
Zwölf Menschen sind tot, weitere sind teils schwer verletzt. Vier Zeichner der französischen Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" mussten sterben, weil sie gezeichnet haben, was Fanatiker nicht sehen wollten. Zwei Polizisten mussten sterben, weil sie diese Freiheit schützen sollten. Sechs weitere Menschen mussten sterben, weil sie den drei schwerbewaffneten Mördern in den Weg gekommen sind bei ihrem Attentat auf die Freiheit.
Wenn der bewaffnete Angriff auf die Redaktionskonferenz von "Charlie Hebdo" dazu führt, dass Islamkritiker und Satiriker nun plötzlich Rücksicht nehmen, dann hat der Terror gewonnen. Doch gewonnen hat er auch, wenn jetzt jeder gläubige Muslim im Verdacht steht, ein gewaltbereiter Islamist zu sein. Der Terror darf keinen Einfluss auf das Handeln und Denken des Einzelnen bekommen - sonst ist die Freiheit verloren. Jetzt erst recht muss die offene Gesellschaft beweisen, dass sie in der Lage ist, unterschiedlichste Anschauungen zu integrieren - und zu ertragen.
Wer am Tag des Anschlags meint, den toten Zeichnern von "Charlie Hebdo" hinterherrufen zu müssen, es sei "dumm" von ihnen gewesen, "Muslime zu provozieren", wie es der Autor Tony Barber in der Online-Ausgabe der "Financial Times" tut, hat also zwar die Freiheit dazu, doch er irrt doppelt: Er unterstellt, dass die Mörder Repräsentanten aller Muslime seien, und nicht etwa fanatische Gewalttäter, die von der übergroßen Mehrheit der Islamgläubigen genauso verabscheut werden wie von jedem anderen vernunftbegabten Menschen. Und er gibt den Terroristen nachträglich recht, weil er Rücksicht auf deren barbarische Weltsicht einfordert, wo eigentlich das Recht auf Meinungsäußerung zu verteidigen wäre - auch dann, wenn dieses wenig konstruktiv ausgeübt wird, auch dann, wenn es nervt.
Wer am Tag des Anschlags meint, es sei jetzt die Gelegenheit gekommen, sich selbstzufrieden damit zu brüsten, ja schon lange vor gewaltbereiten Islamisten gewarnt zu haben, wie es die Pegida-Organisatoren auf ihrer Facebook-Seite tun, wer jetzt versucht, aus dem schrecklichen Anschlag politisches Kapital für seine rückwärtsgewandte Partei zu schlagen, wie es der AfD-Funktionär Alexander Gauland tut, hat zwar die Freiheit dazu, doch er betreibt ein verabscheuungswürdiges Geschäft mit der Spaltung der Gesellschaft.
Nein, jetzt ist die Zeit, die Mörder zu finden und zu bestrafen, sie und all jene, die mit ihnen gemeinsame Sache machen. Jetzt ist die Zeit, um die zwölf ermordeten Menschen zu trauern. Gemeinsam mit ihren Familien und Freunden. Gemeinsam mit den Franzosen, die mitten in ihrer Hauptstadt am helllichten Tag den Terror erleben mussten. Gemeinsam auch mit allen friedliebenden Muslimen, Christen, Juden, Gläubigen jeder Religion, Agnostikern und Atheisten, die wohl zurecht befürchten müssen, dass der Anschlag von Paris das Zusammenleben noch schwerer macht, dass Hass mit noch mehr Hass und Gewalt mit noch mehr Gewalt beantwortet werden wird.
Später können wir uns wieder darüber streiten, mit Worten und mit Bildern, welche Religion die beste ist - oder gar keine. Später können wir uns wieder streiten, ob eine Zeichnung lustig ist oder beleidigend oder einfach nur doof. Später können wir wieder demonstrieren für das eine Weltbild oder sein Gegenteil. Aber jetzt müssen alle, die keinen Hass wollen, alle, die Gewalt verabscheuen, zusammenstehen - egal, was sie sonst trennen mag.