
Antifaschismus Das Märchen vom linken Mob

Antifa-Demo (in Essen im September 2019): Was genau soll da "bedrohlich" sein?
Foto: Marcel Kusch/ DPADie Leute sagen, ein Gespenst gehe um in Europa, das Gespenst des linken Mobs. Allein, dieser vermeintliche linke Mob scheint hauptsächlich in den Köpfen derer zu existieren, die Antifaschismus für "genauso schlimm" wie Faschismus halten. Während JournalistInnen, KünstlerInnen, AktivistInnen, WissenschaftlerInnen und Privatpersonen heute einer Vielzahl Angriffen von Rechten und Rechtsextremen ausgesetzt sind, gibt es immer noch und immer wieder Leute, die davon reden, dass Gewalt von Linken oder Linksextremen im Moment das eigentliche Problem sei. Obwohl sie wissen könnten, dass Gewalttaten von links deutlich zurückgegangen sind .
Deutsche lieben Traditionen, aber manchmal wissen sie gar nicht, in welch althergebrachter Tradition sie stehen. Die Verharmlosung rechter Gewalt bei gleichzeitiger Behauptung angeblich mindestens genauso brutaler linker Gewalt ist so eine Tradition in Deutschland. (Sie ist nicht nur deutsch, natürlich; VertreterInnen der sogenannten Hufeisen-Theorie , nach der Rechts- und Linksextreme gleichermaßen bedrohlich für Demokratien sind, findet man überall.)
Die Philosophin und Autorin Dania Alasti schreibt in ihrem Buch "Frauen der Novemberrevolution" darüber, wie "viele Krawalle, Demonstrationen und Streiks von 1915 bis 1918 maßgeblich von Frauen getragen" wurden und wie viele der damals protestierenden Frauen heute vergessen sind. Interessant für die Frage nach linker und rechter Gewalt ist ihre Beobachtung der juristischen Verfolgung politischer Gewalt, zu der sie eine Untersuchung von 1922 zitiert:
"In seiner ausführlichen Recherchearbeit 'Vier Jahre politischer Mord' fasste der Mathematiker Emil Gumbel 1922 alle bekannt gewordenen Fälle politischen Mordes (...) von linken und von rechten Gruppierungen zusammen und verglich die Strafverfolgung und Aufarbeitung. Der Vergleich war erschreckend. Die bayerischen Räterepublikaner*innen wurden insgesamt zu 616 Jahren Einsperrung verurteilt, während die Kapp-Putschisten für insgesamt fünf Jahre eingesperrt wurden. Seine Arbeit kann als akribische Ideologiekritik verstanden werden. Er stellte ausführlich dar, wie ausschreitend Gewalttaten von rechten Verbänden waren und wie wenig sie strafverfolgt wurden, während es sehr viel weniger Gewalttaten seitens der linken Räte oder Aufständischen gab, die aber sehr stark strafverfolgt wurden. Gleichzeitig (...) war das öffentliche Bewusstsein verkehrt. Gewalt von linker Seite wurde direkt verurteilt, während Gewalt von rechter Seite mit ausweichenden Sätzen begegnet wurde, wie: 'Wir mißbilligen politischen Mord von jeder Seite.'"
Diese Art der Verschiebung von Diskursen, weg von rechter Gewalt, sehen wir auch heute. Menschen, die etwa in sozialen Netzwerken darauf hinweisen, von welchen rechten Journalisten oder anonymen Accounts sie belästigt oder bedroht werden, wird vorgeworfen, sie würden nun ihrerseits gegen diese Leute "hetzen", den "linken Mob anstacheln", Leute ihren Followern "zum Fraß vorwerfen" - obwohl sie einfach nur TäterInnen benennen oder Angriffe sichtbar machen. Im Großen und Ganzen heißt das: Wehr dich nicht und halt dein Maul, wenn Nazis dich angreifen, sonst bist du genauso schlimm wie sie. Oder, wie FDP-Politiker Sebastian Czaja es mal formulierte: "Antifaschisten sind auch Faschisten". Täter-Opfer-Umkehr wie aus dem Lehrbuch.
Dabei ist das, was für "linke Hetze" gehalten wird, oft einfach ein Benennen der Zustände. Wenn man Leute, die Rechte oder Rechtsextreme verteidigen - ob aus Unwissenheit oder tatsächlicher politischer Motivation - darauf hinweist, was sie da tun, dann hört man sehr schnell Verteidigungen wie: "Hören Sie auf gegen mich zu hetzen!" oder "Sie diskreditieren mich öffentlich!" Es sind oft Leute, die keine Ahnung davon haben (oder haben wollen), was etwa JournalistInnen oder AktivistInnen, die über Rechtsextreme berichten, erleben, und was tatsächliche Hetze ist : Gewaltandrohungen, Morddrohungen, Veröffentlichung von Privatadressen oder anderen privaten Informationen, sogenannte Feindeslisten und Aufrufe, die Person zum Schweigen zu bringen.
Diese Form der Bedrohung von rechts nimmt zu, und wer behauptet, dass Linke angeblich genau so schlimm sind, verharmlost alles daran. Es wird auch nicht glamouröser dadurch, dass Leuten häufig nur die G20-Ausschreitungen einfallen - oder einfach Stalin -, wenn sie dann nach Beispielen angeblich so verbreiteter linker Gewalt suchen, wobei sie sich, freiwillig oder unfreiwillig, in unsympathische Nachbarschaften begeben: Rechte suchen kontinuierlich nach Beispielen angeblich linker Bedrohung, um sich als Opfer darstellen zu können.
Gerade erst hat die NPD eine Demonstration gegen drei Journalisten angekündigt, die über rechtsextreme Kreise recherchieren. Rechtsextremismusexperte Andreas Speit sagte im Deutschlandfunk dazu , er befürchte, "dass manches Mal Kolleginnen und Kollegen dann doch so ein wenig überlegen: 'Ja, Mensch, muss ich mir das antun, wenn ich über die berichte, wenn das solche Folgen haben könnte?'"
Die Kabarettistin Idil Baydar, die oft Themen wie Rassismus und andere Diskriminierung anspricht, konnte vor wenigen Tagen in Frankfurt eine Rede nur unter Polizeischutz halten , weil sie zum wiederholten Male mit Mord bedroht wurde. Gleichzeitig ist bekannt, dass die Aufrüstung der rechten und rechtsextremen Szene mit Waffen kontinuierlich weiterläuft. Der Verfassungsschutz geht nach einem Bericht des "Tagesspiegels" aktuell davon aus, dass 750 Rechtsextreme "über eine ( ) waffenrechtliche Erlaubnis verfügen ".
In ihrer Dankesrede für den Heinrich-Böll-Preis machte die Schriftstellerin Juli Zeh sich kürzlich Gedanken über politisches Engagement und seine Formen. Über Greta Thunbergs Rede vor den Vereinten Nationen sagte sie, Thunberg setze "ausdrücklich das Anprangern von vermeintlichem Politikversagen ('How dare you?') an die Stelle von konstruktiven Vorschlägen" - als würde Thunberg nicht permanent konkrete Vorschläge für eine bessere Klimapolitik machen. Zeh hingegen sieht es so: Engagement wie dieses "kann umschlagen ins Bedrohliche, wenn es der Behauptung entspringt, dass das demokratische System und seine Repräsentanten überhaupt nicht (mehr) in der Lage seien, den Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden." Was genau soll da "bedrohlich" sein? Gleichzeitig machte Zeh sich Sorgen darüber, dass Thea Dorn ihre "leicht Fridays-For-Future-kritische Haltung" nicht öffentlich äußern könnte, ohne "vom Podium gebrüllt zu werden" oder dass "AfD-Mitbegründer Bernd Lucke niedergebrüllt worden" war, als er versuchte, an der Uni Hamburg eine Vorlesung zu halten. "Inzwischen sind verbale und auch körperliche Angriffe auf Politiker an der bundesdeutschen Tagesordnung, egal, ob sie von 'links' oder von 'rechts' erfolgen." - Wie egal ist es genau, ob sie von links oder rechts erfolgen?
Wenn linke AktivistInnen an einer Uni bei einer Veranstaltung "buh!" rufen, wenn in Gender Studies sprachliche Änderungen vorgeschlagen werden, wenn Studierende sich über Texte beschweren, die rassistische Begriffe oder Theorien enthalten, dann ist immer sehr schnell von einer vermeintlichen Überempfindlichkeit dieser Generation die Rede, die sich angeblich nicht mehr mit "Andersdenkenden" auseinandersetzen will und nur noch in Safe Spaces rumhängen möchte. Es ist im Grunde ein komplettes Feuilleton-Genre entstanden, das diese vermeintliche Diskursverweigerung thematisiert.
Nun saß vor wenigen Wochen an der Uni Wien ein Student mit einer Waffe in einer Physik-Vorlesung. Wenige Tage später wurde bei einer Kontrolle an der Uni ein Messer gefunden, das er bei sich trug. Bezüglich islamfeindlicher Gewaltfantasien, die von seinem Account ausgingen, behauptete er laut dem Magazin "profil" , sein Twitter-Account sei gehackt worden. Österreichische Medien berichteten über den Fall, deutsche Medien ignorierten ihn konsequent. Warum? Und was wäre los gewesen, wenn etwa bei der Vorlesung von AfD-Gründer Lucke bei einem Studenten eine Waffe gefunden worden wäre? Man kann nur mutmaßen, aber vermutlich wäre mächtig was los gewesen.