Antisemitismus-Forschung "Abgefeimte Techniken"

Ehemaliges Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz: Vor 65 Jahren befreit
Foto: © Reinhard Krause / ReutersVor 65 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz von der Roten Armee befreit. Aus diesem Anlass wurde am Dienstagabend in Berlin der zweite Band des "Handbuchs des Antisemitismus" vorgestellt. Es ist eine akademische Fleißarbeit von fast tausend Seiten Umfang, sie enthält 686 Biografien von "Personen, die von der Spätantike bis zur Gegenwart auf allen Kontinenten der Erde im Kontext der Judenfeindschaft eine Rolle gespielt haben", so Wolfgang Benz, der Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Berliner TU.
Zu den im Buch erwähnten und erklärten Personen zählen klassische Judenhasser wie Hans Ulrich Megerle, der 1662 dem Orden der Augustiner beitrat, sich fortan Abraham a Sancta Clara nannte und die Juden für alles verantwortlich machte, vom Ausbruch der Pest bis zum Aufmarsch der Türken vor Wien; moderne Judenverfolger wie Adolf Eichmann, der auf dem Rücken der Juden Karriere im NS-Apparat machte, indem er mit professioneller Kälte die Endlösung der Judenfrage managte; und multiple Überzeugungstäter wie der polnische Geistliche und Gründer von "Radio Maryja", Tadeusz Rydzyk, der sich als ein "Bollwerk gegen das Böse" versteht und eine "Mischung aus katholisch-fundamentalistischen, antisemitischen und nationalistischen Ideen" verbreitet. Neben "Radio Maryja", das rund um die Uhr sendet, kommandiert Rydzyk inzwischen auch eine Tageszeitung, eine private Hochschule, einen Fernsehsender und drei Stiftungen.
Der Antisemitismus, sagte Benz in seiner Einleitung, sei eben "ein sehr altes und ein sehr aktuelles Thema". Die Bemerkung war mit Bedacht gewählt, denn Benz war letztens - auch vom Verfasser dieser Zeilen - der Vorwurf gemacht worden, er beschäftige sich am liebsten mit toten Antisemiten, um der Auseinandersetzung mit lebenden Judenhassern aus dem Weg zu gehen. Die Auswahl, die Benz und seine 176 Autoren für das "Handbuch" getroffen haben, scheint den Vorwurf zu entkräften. Man habe, so Benz, mit Bedacht auch aktuelle Fälle aufgenommen, neben Rydzyk auch den iranischen Präsidenten Ahmadinedschad, der Israel mit Vernichtung droht, den deutschen Verleger und Herausgeber der "National-Zeitung", Gerhard Frey, den britischen Historiker David Irving und den Pius-Bruder und Holocaust-Leugner Richard Williamson.
"Typisch dafür, wie man mit Geraune etwas bewirkt"
Klar ist: Hätte Benz jeden aktiven Antisemiten mit einem Eintrag in das "Handbuch" gewürdigt, wäre er wohl in zehn Jahren noch nicht mit der Arbeit fertig gewesen. Natürlich muss das Schwergewicht einer solchen Sammlung in der Geschichte liegen, angefangen bei Thomas von Aquin über Martin Luther bis zu Hans Globke, der die "Nürnberger Gesetze" mitgeprägt hatte und später Adenauer als Staatssekretär diente. Keine Auswahl kann komplett sein, nicht einmal die Encyclopaedia Britannica.
Dennoch ist es zulässig zu fragen, warum einige Namen, die noch vor kurzem "im Kontext der Judenfeindschaft eine Rolle gespielt haben", in dem Handbuch nicht vorkommen. Christian Böhme, Chefredakteur der "Jüdischen Allgemeinen Zeitung", vermisste in der anschließenden Podiumsdiskussion Jürgen W. Möllemann und Martin Hohmann. "Die hätten es verdient, in das Handbuch aufgenommen zu werden!"
Der FDP-Politiker hatte im NRW-Wahlkampf von 2002 mit einem "israelkritischen" Flugblatt, das voller antisemitischer Stereotype steckte, für einen handfesten Skandal gesorgt; der CDU-Bundestagsabgeordnete wurde zuerst aus der Fraktion und dann aus der Partei ausgeschlossen, nachdem eine Rede von ihm bekannt wurde, in der er Juden mit dem Begriff "Tätervolk" in Verbindung gebracht hat.
Benz bestritt nicht die Richtigkeit des Einwands. Möllemann und Hohmann wären "typisch dafür, wie man mit Geraune etwas bewirkt und hinterher sagt: Ich hab doch nur zitiert", beide hätten sich "abgefeimter Techniken" bedient, dennoch habe es für eine Aufnahme in das Handbuch nicht gereicht, weniger aus inhaltlichen als aus taktischen Gründen. Es wäre doch keinem gedient, so Benz, "wenn prozessfreudige Angehörige ein wissenschaftliches Werk vom Markt" klagen könnten. Trotzdem habe er sich den Hinweis "für die 2. Auflage notiert".
Nichts Neues am "neuen Antisemitismus"
Man muss Wolfgang Benz für diese Offenheit dankbar sein. Denn in der Bundesrepublik wird die Frage, wer die Bezeichnung "Antisemit" verdient, inzwischen nicht in Seminaren, sondern von Gerichten verhandelt, wobei sich die Richter erst selbst kundig machen müssen. Sogar das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung hat vor kurzem einen Prozess gegen einen Verschwörungstheoretiker verloren, der munter mit antisemitischen Stereotypen hantiert und zu seiner Entlastung angibt, er sei mit einer Jüdin verheiratet, wenn ihm Antisemitismus vorgeworfen wird.
Benz war es auch, der mit aller Klarheit festgestellt hat, es sei nichts Neues am "neuen Antisemitismus", außer, "dass er sich vor allem gegen den jüdischen Staat" richtet. Ein Aspekt, der in der Arbeit des Zentrums bis jetzt zu kurz gekommen ist. Ein anschauliches Beispiel für den ordinären Antisemitismus, der sich als politischer Antizionismus geriert, liefert der französische Komiker und Schauspieler Dieudonné M'bala M'bala, der sich gern über das Treiben der "jüdischen Lobby" beklagt, die ein "Monopol auf das Leiden der Menschheit" für sich beansprucht. Auch er wird im "Handbuch" ausgiebig gewürdigt.
Das von Benz vorgelegte "Who Is Who" der antisemitischen Persönlichkeiten von der Antike bis heute hat einen hohen Informationswert; und es ist streckenweise auch unterhaltsam, zum Beispiel wenn das Wirken des zu recht vergessenen Schriftstellers Hans Diebow (1896 bis 1975) beschrieben wird, der mit einer Arbeit über "Archäologische Studien über die Nacktheit des Weibes in der griechischen Kunst" promovierte, bevor er sich der Lösung der "Rassenfrage" zuwandte.
Mit dem zweiten Band des Handbuchs werden viele Fragen beantwortet - und noch mehr gestellt. Deswegen sollen noch fünf weitere Bände erscheinen, bis die Edition komplett ist. Aber auch danach bleibt der Antisemitismus wohl ein Rätsel, dessen Lösung erst nach der Quadratur des Kreises gelingen wird.