ARD-Büro Berlin Aleviten demonstrieren gegen "Inzest"-Tatort

Sie fürchten alte Vorurteile: Die Ausstrahlung einer "Tatort"-Folge, die einen Inzest-Fall in einer alevitischen Familie thematisiert, empört Mitglieder der Glaubensgemeinschaft. Über tausend Menschen versammelten sich vor dem ARD-Hauptstadtbüro.

Berlin - Die 28-Jährige Cigdem Ipek hat den "Tatort" nicht gesehen. Aber "zig Artikel" habe sie darüber gelesen. Und das, was sie dort erfahren habe, sei Grund genug, vor der ARD-Zentrale zu demonstrieren. "Es mag ja sein, dass Deutsche keine Vorurteile gegen uns haben. Aber solch ein Film kann in der türkischen Community die Gegensätze zwischen Aleviten und Sunniten verstärken", befürchtet sie.

Über Tausend Aleviten haben sich am Donnerstagnachmittag vor dem ARD-Haupstatdtbüro in Berlin versammelt. Sechs Polizeiwannen sind vorgefahren, vor dem Eingang und seitlich des Gebäudes stehen Beamte. Die Menge ist anfangs still, ein gutes Dutzend hält Pappkartons in die Höhe, auf dem der Artikel 1 des Grundgesetzes zitiert wird: "Die Würde des Menschen ist unantastbar".

Die Demonstranten empören sich über den von der ARD am 23. Dezember ausgestrahlten Film "Wem Ehre gebührt". Darin geht es, wie in jedem ordentlichen Krimi, um einen Mord, diesmal auch um einen vorangegangenen Inzest.

Der Fall spielt in einer alevitischen Familie - und besitzt deswegen eine kulturell-politische Dimension, die sich die Filmemacher selbst wohl so nicht vorgestellt haben. Denn die Aleviten, eine liberale religiöse Minderheit in der Türkei, haben in der muslimischen Welt mit dem jahrhundertealten Vorurteil zu kämpfen, sie übten Inzest aus, weil sie in ihren Gemeinden religiöse Rituale gemeinsam mit Frauen und Kindern ausführten. Und was in Krimis vor einem kulturellen deutschen Hintergrund vielleicht nur noch ein müdes Achselzucken erntet, löst hier Emotionen aus. Dabei geht es den Demonstranten nicht so sehr um die deutsche Gesellschaft, sondern um die Folgen, die ein in Deutschland hergestellter Krimi unter den Türken in Deutschland auslösen kann - denn diese sind mehrheitlich sunnitisch.

Die Sozialwissenschaftlerin Ipek steht in der hereinbrechenden Dämmerung am Reichstagsufer in Berlin-Mitte und sagt, sie finde es empörend, dass die Filmemacher auf entsprechende Bedenken der alevitischen Gemeinde nicht eingegangen seien. "Wie kann es sein, dass der Film ausgerechnet am 23. Dezember ausgestrahlt wurde", fragt sich Ipek. Und nicht nur sie.

Auch andere weisen auf diesen Umstand hin. Denn an diesem Tag fanden in der türkischen Provinzstadt Marasch 1978 Pogrome statt. Hunderte von Menschen seien damals grausam niedergemetzelt worden, "unter anderem wegen dem Inzestvorwurf", heißt es in einem Flugblatt des "Kulturzentrums Anatolischer Vereine", die den Protest an diesem Tag angemeldet hat.

"Sehen wir alle behindert aus oder was? Schauen Sie sich diese friedlichen Menschen an", sagt Deniz Han. Die 32-Jährige Politologin und Psychologin spielt auf den Umstand an, dass Kinder aus Inzest-Beziehungen mit erblichen Schäden zur Welt kommen. "Seit 500 Jahren müssen wir uns in der Türkei mit dem Vorurteil auseinandersetzen, dass wir Aleviten Inzest betreiben. Dass wir quasi bescheuert sind. Und jetzt kommt die ARD und macht da einen Film", sagt Han. Umstehende Frauen geben ihr Recht.

Vorsitzender der Türkischen Gemeinde ist solidarisch

Bei aller Aufregung geht es trotzdem recht entspannt zu vor der Berliner Dependance der ARD. Die an Demonstrationen gewöhnte Polizei verhandelt mit den Vertretern des "Kulturzentrums Anatolischer Aleviten" über die Modalitäten des Protestes. Die Gruppe der Wartenden wird immer größer. Es sei eine "Eilversammlung", sagt Rechtsanwalt Hakki Celik. Er selbst hat, wie viele hier, nur Ausschnitte des Films gesehen. Aber das, was er gesehen habe, "ist schon ein starkes Stück". Er könne die Empörung verstehen. "Das hat sich herumgesprochen in der Gemeinde wie ein Lauffeuer", sagt er. Noch während er mit den Polizisten redet, kommen weitere Gruppen die Wilhelmstraße herunter, manchmal auch ganze Familien, um sich den Wartenden hinzu zu gesellen.

Auf einigen Schultern sind Kleinkinder zu sehen. Die Organisatoren des Protestes haben Ordner mitgebracht, auf einem weißen Mietwagen trägt ein junger Mann zwei Lautsprecherboxen, zwei weitere stehen auf der Straße. Tuncay Yilmaz von der "Anatolischen Föderation" wird von Fotografen umringt. Er trägt ein Schild, auf dem in türkisch steht: "Die ARD soll sich bei den Aleviten entschuldigen."

In der Nähe des Lautsprecherwagens steht auch Kenan Kolat. Er ist Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Und er ist Sunnit. "Ich kann die Bestürzung sehr gut nachvollziehen", sagt er. Er sei hierher gekommen, um sich solidarisch zu zeigen. Natürlich sei er für die Freiheit der Kunst. "Aber ich wünschte mir manchmal mehr Empathie in den Medien, bei den Künstlern für das, was sie tun". Den Filmemachern des "Tatort" hält Kolat vor, sie seien "entweder naiv oder sie haben es vorsätzlich getan". Und dann weist er mit einem Kopfnicken auf die Menschenmenge und sagt: "Gerade die Aleviten sind diejenigen, die sich stark für die Integration einsetzen, für die Gleichberechtigung von Mann und Frau." Mit Filmen wie dem "Tatort" in der ARD "besteht die Gefahr, dass wir diesen sehr wichtigen Teil der Bevölkerung beim Kampf für die Integration zu verlieren drohen".

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