Margarete Stokowski

Kritik an Twitter-Debatten Uns geht's nicht zu gut

Wer darf bei Twitter über sein Leid klagen? Der Vorwurf, bei #MeToo oder #MeTwo handle es sich um Luxusprobleme privilegierter Mediennutzer, ist absurd. Auch eine gebildete weiße Frau darf sich beschweren.
#MeToo-Demonstration

#MeToo-Demonstration

Foto: MARK RALSTON/ AFP

Hashtag-Kritik ist zu einem eigenen Feuilletongenre geworden, und das ist einerseits logisch, weil Debatten heute oft in sozialen Medien stattfinden, aber andererseits bitter, weil dabei immer wieder dieselben Missverständnisse und Vorwürfe reproduziert werden. Auf nahezu magische Art entstehen dann immer wieder dieselben Texte darüber, dass die jungen Leute sich über Kleinkram beschweren und die eigentlichen Probleme nicht sehen. Das war bei #Aufschrei so und bei #MeToo, und bei #MeTwo nun auch.

Jörg Wimalasena ("taz" ) und Stefan Laurin ("Ruhrbarone" ) haben aufgeschrieben, was ihnen an den Hashtags #MeTwo und #MeToo nicht passt. Beide Autoren machen auf ein Problem aufmerksam: das fehlende öffentliche Bewusstsein für die Not und das Elend der Unterschicht. Das ist richtig. Beide tun dies, indem sie Diskussionen um Alltagsrassismus und -sexismus als Ausdruck exklusiver Wehwehchen einer verhätschelten Elite abtun und angreifen. Das ist falsch.

In seinem Text mit der leider schon alles sagenden Überschrift "Jammern auf hohem Niveau" beschreibt Wimalasena die Menschen, die unter #MeTwo schreiben, als "Journalisten, Buchautoren, Politiker", für Laurin herrscht in den Debatten der "Blick von gut ausgebildeten, jungen und meist auch attraktiven Menschen auf die Gesellschaft." Von Laurins Geheimwissen um die Schönheit von Antirassisten und -sexisten mal abgesehen: Dass mediale Diskurse die Tradition haben, von ansatzweise gebildeten Menschen geführt zu werden, ist sicherlich wahr.

Auch mal Leute mit 27 Followern lesen!

Das gilt aber keineswegs in besonderem Maße für die hier verhandelten Themen und erst recht nicht für die einschlägigen Plattformen. Auf Twitter schreiben neben gut bezahlten Buchautorinnen und (gar nicht mal so schönen) Politikern auch Alleinerziehende, die mit Hartz IV auskommen müssen, Menschen, die noch nie einen Arbeitsvertrag hatten und Schülerinnen mit armen Eltern, und man kann das alles lesen, wenn man nicht nur zertifizierte Accounts mit blauen Häkchen liest, sondern auch Leute mit 27 Followern.

Wimalasena reicht das nicht: "Dabei lohnt ein Blick auf das Netzwerk selbst, um die soziale Exklusivität der Nutzer zu verdeutlichen. Fast zwei Drittel der deutschen Twitter-Nutzer hatte laut einer Umfrage 2017 Abitur oder sogar studiert."

Zwischenfrage: gibt es eine neue Definition von Exklusivität, nach der diese gegeben ist, wenn irgendwo eine bestimmte Personengruppe zu nicht mal 66 Prozent vertreten ist? Ist ein gutes Drittel ohne Abitur nicht entgegen der Implikation eine ziemlich hohe Quote verglichen mit den Medien, in denen Debatten üblicherweise geführt werden, Radio, Fernsehen - und Zeitungen, wie zum Beispiel auch der "taz"? (Ebenjener "taz" übrigens, von der heute in meinem Briefkasten die Genossenschafts-Mitgliederinfo lag mit dem Titel: "Wir haben die taz groß gemacht - und kriegen jetzt kleine Renten." Abi und Ehre hin oder her, manchmal ist man damit vom Flaschensammeln auch nicht so weit entfernt.)

Hat eine gebildete weiße Frau nicht das Recht, beleidigt zu sein?

Indem Wimalasena diejenigen Unterprivilegierten, die auf Twitter weit eher eine Chance haben sich zu äußern als in Traditionsmedien (und dies auch tatsächlich in viel stärkerem Maße tun als er suggeriert) zu Teilnehmerinnen und Teilnehmern eines elitären und daher irrelevanten Diskurses erklärt, produziert er genau den Ausschluss, den er beanstandet. Doch auch die Delegitimation derjenigen, die tatsächlich in der einen oder anderen Weise privilegiert sind, ist problematisch. Hat eine gebildete weiße Frau, die sexistisch beleidigt wird, hat ein gebildeter schwarzer Mann, der rassistisch beleidigt wird, nicht das Recht, beleidigt zu sein? Ab wann muss man bei Diskriminierungen "drüber stehen", wenn überhaupt? Sobald es irgendwem noch schlechter geht?

Damit den Gekränkten die Veröffentlichung ihrer Kränkung zum Vorwurf gemacht werden kann, wird ein zweiter Vorwurf erhoben, nämlich, dass sie sich mit ihren Sorgen auf Kosten derer befassen, denen es wirklich schlecht geht. Dass sie sich nicht um die Armen und Ärmsten scheren. Nun ist es einfach kindisch, einem Hashtag, in dem es um ein klar definiertes Thema A geht, zur Last zu legen, dass es nicht um Thema B geht (siehe Svenja Flaßpöhlers Kritik, dass es bei #MeToo um lauter Fälle von Belästigung ging und nicht um eine emanzipierte Knallersexualität - das war halt nicht das Thema.)

Das ahnen wohl auch die Autoren Laurin und Wimalasena, und so müssen sie pausenlos ein Konkurrenzverhältnis unterschiedlicher emanzipativer Anstrengungen konstruieren: "Bei dem Wettlauf um die öffentliche Aufmerksamkeit spielt eine Gruppe jedoch nicht mit (...): Die Armen, die sozial Deklassierten" (Laurin). Denn so ist das bei öffentlicher Aufmerksamkeit und Rennen: Es können nicht alle gewinnen.

Bei Wimalasena ist das Zauberwort "anstatt": "Anstatt sich auf die Suche nach den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft zu machen und ihre Geschichten zu erzählen…", "anstatt gegen Hartz IV und für gerechtere Löhne ins Feld zu ziehen…", "anstatt lediglich die identitätspolitische Anerkennung des eigenen Leids einzufordern…" - In der vom "Anstatt" markierten Logik kommt die Möglichkeit, dass jemand für die Anerkennung des eigenen Leids und gleichzeitig gegen ungerechte Bezahlung kämpft, nicht vor.

Diese grimmige Abwertung der "weichen Themen" und vermeintlichen Luxusprobleme erinnert an die von Puristen des Klassenkampfs bekannte Rede vom Hauptwiderspruch. (Wenn die Revolution erst mal den Antagonismus zwischen Kapital und Lohnarbeit weggefegt hat, erledigen sich Sexismus, Rassismus etc. von selbst, so das Argument in seiner vulgärsten und populärsten Form. Dagegen habe ich zwei Einwände: 1. dauert mir zu lange, 2. glaube ich nicht.)

Ein Ausspielen von Minderheiten

Noch fataler erinnert diese Abwertung vermeintlicher Sonderprobleme an das unwürdige Schauspiel der deutschen Sozialdemokratie, die, als ihre Klientel nach rechts abwanderte, nicht etwa bei der eigenen vergurkten Sozialpolitik, sondern bei Unisex-Toiletten, der Ehe für alle und anderem so called Genderquatsch die Gründe fand. Das ist leider ein Ausspielen von Minderheiten, das Rechte längst perfektioniert haben (Flüchtlinge gegen Obdachlose, Romafamilien gegen deutsche Mütter, usw.).

Man muss die beiden Hashtagkritiker Laurin und Wimalasena gar nicht inhaltlich in die Nähe von Rechten bringen, um festzustellen, dass sie ähnliche Fehler begehen wie die ideenmäßig völlig verwahrloste SPD. "Viele Linke halluzinieren einen Konkurrenzkampf zwischen Kapitalismus und Rassismus", kritisierte Fatma Aydemir in der "taz"  zurecht.

Wer sich daran beteiligt, der malt mit am tristen Bild von einander ausschließenden, einander Aufmerksamkeit wegnehmenden, gegnerischen emanzipativen Bestrebungen. Dagegen wäre der Gedanke stark zu machen, dass Kämpfe gebündelt werden können und einander beflügeln und unterstützen. Denn wer "unten" sitzt und hört, wie "oben" über Sexismus und Rassismus gestritten wird, der muss davon nicht ausgeschlossen werden, der kann auch denken und hoffen: Endlich passiert was, was besser ist als Totschweigen. Und das ist es allemal.

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