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Augenzeuge Mankell über Gaza-Vorfall "Die Israelis hätten auf die Schiffsschrauben zielen können"

Eigentlich sollte er seinen neuen Roman vorstellen. Doch jetzt wird Henning Mankells Lesetour zum politischen Statement: In Berlin berichtete der Krimiautor von seinen Erlebnissen an Bord der Gaza-Hilfsflotte während des israelischen Angriffs - und präsentierte neben Fakten auch Ressentiments.
Von Reinhard Mohr

Um Punkt 15.30 Uhr betrat der schwedische Bestsellerautor Henning Mankell am Donnerstagnachmittag den großen Saal der Berliner Volksbühne, in dem sich eine knappe Hundertschaft Journalisten und Kameraleute versammelt hatte. Ursprünglich sollte es an diesem Tag nur um Mankells neuen Krimi "Der Feind im Schatten. Wallanders letzter Fall" gehen, dessen Lesung am Abend stattfindet.

Nach dem israelischen Angriff vom vergangenen Montag auf sechs Schiffe einer Solidaritätsflotte vor der Küste des Gaza-Streifens hat sich die Tagesordnung des Schriftstellers jedoch komplett geändert. Er selbst war nämlich auf einem dieser Schiffe und wurde von israelischen Sicherheitskräften rund 24 Stunden festgehalten, bevor er am Dienstag mit einer Lufthansa-Maschine nach Schweden zurückkehren konnte.

Als einen "mörderischen" Akt von "Seeräuberei und Kidnapping" hat er die Attacke israelischer Marinesoldaten, bei denen zehn türkische Aktivisten ums Leben kamen, gegenüber schwedischen Medien bereits verurteilt. In Berlin schilderte er nun das, was er "persönlich gesehen habe", noch einmal im Detail.

Torpedierte Solidarität

"Ich habe nicht alles gesehen", schränkte er zu Beginn seine Zeugenaussage ein, "aber ich will nichts als die Wahrheit sagen." Nie habe er gelogen, und so wolle er auch jetzt keine Halbwahrheiten verbreiten.

Die ganze Aktion sei ein "Akt der Solidarität" gewesen, um die Seeblockade des palästinensischen Gaza-Streifens zu durchbrechen. Das kleine Schiff namens "Sophia", auf dem er sich aufhielt, habe unter anderem Zement, Baumaterial und Fertigteile geladen. Am frühen Montagmorgen sei er durch Schreie anderer Passagiere, darunter ein Arzt und ein Parlamentarier aus Schweden, aufgewacht, die von Gewehrfeuer und Leuchtraketen berichteten.

Alle Funkverbindungen seien von der israelischen Armee gekappt worden, so dass die Kommunikation unter den Schiffsbesatzungen unmöglich war. So habe er erst im Flugzeug von den Todesopfern erfahren. Auf der "Sophie" habe es jedenfalls keinerlei Widerstand der Passagiere gegeben. Allein israelische Soldaten hätten mit einer Elektroschockpistole mehrere Besatzungsmitglieder niedergestreckt. Bei der anschließenden Durchsuchung des Boots präsentierten die Israelis Nassrasierer und Brieföffner als "Waffen".

Elf Stunden dauerte dann die Fahrt in den Hafen von Aschdod, wo schließlich einer nach dem anderen abgeführt wurde, gefilmt von Kamerateams der israelischen Armee. Auch dies sei, so Mankell, ein Verstoß gegen die Uno-Völkerrechtskonvention für Kriegsgefangene.

Dazu sei ihm alles gestohlen worden: Papiere, Geld, Kamera, Kreditkarten und andere Utensilien. Sämtliche Gefangenen wurden vor die Alternative gestellt: "Entweder Deportation oder Ausweisung." Als Grund für seine Verhaftung wurde ihm die "illegale Einreise nach Israel" genannt.

Bis heute, sagte Mankell, habe er keine Erklärung dafür, warum die Gaza-Flotte, die einen strikt humanitären Auftrag erfüllen sollte, in internationalen Gewässern und ohne Vorwarnung angegriffen worden sei. "Wenn die Israelis uns hätten stoppen wollen, dann hätten sie an der Seegrenze ihres Hoheitsgebiets auf die Schiffsschrauben zielen können, ganz einfach." So aber habe sich Israel durch sein "dummes Vorgehen" selbst in die Ecke gestellt.

"Normaler Hass auf die Besatzer"

Dass Mankell kein ausgesprochener Freund des jüdischen Staates ist, stellt keine Neuigkeit dar. Als er 2009 Gast einer palästinensischen Literaturkonferenz war und die palästinensischen Autonomiegebiete bereiste, sagte er, dort erlebe man "eine Wiederholung des verächtlichen Apartheidsystems, das einst die Afrikaner und Farbige als Bürger zweiter Klasse in ihrem eigenen Land behandelte".

Die israelischen Sperranlagen verglich Mankell mit der Berliner Mauer. Angesichts der Lebensumstände der Palästinenser sei es nicht verwunderlich, "dass sie sich entscheiden, sich in einen Selbstmordbomber zu verwandeln. Verwunderlich ist nur, dass es nicht mehr tun". Denn "die Israelis" würden "Leben vernichten", und der Staat Israel in seiner jetzigen Form habe keine Zukunft. Auch eine Zwei-Staaten-Lösung würde die "historische Besatzung" nicht rückgängig machen. Antisemitismus habe er während der Reise nicht erlebt, lediglich "normalen Hass auf die Besatzer".

Auch in der Berliner Volksbühne wies Mankell jede Unterstellung dieser Art zurück: "Natürlich bin ich kein Antisemit. Aber ich bin ein Kritiker Israels." Von einem Schweizer Kollegen gefragt, ob es auf den Schiffen, wie berichtet wird, Rufe wie "Tod den Juden!" gegeben habe, sagte er: "Hand aufs Herz - nein!" Und wenn es sich doch herausstellen würde, wäre er "sehr wütend".

Im Herbst soll eine neue Flotte starten - mit Mankell an Bord

Ob er nicht naiv sei, wollte jemand wissen. Viele Videos zeigten doch, dass nicht wenige Teilnehmer der "Friedensflotte" mit physischer Gewalt zu Werke gingen. Nein, nein, alles sei er, nur nicht naiv. Zwar habe er "nicht viel gesehen", aber die Tatsache, dass unter den Toten keine Israelis seien, spreche doch für sich. Auch über islamistische, gar terroristische Strukturen bei der federführenden türkischen Hilfsorganisation IHH sei ihm nichts bekannt.

Zugleich sei er natürlich "sehr kritisch" gegenüber der radikalen Palästinenserorganisation Hamas, aber Gespräche mit ihnen müsse es geben, um den Nahost-Konflikt zu lösen. Wie das aussehen könnte? "Ich weiß es nicht."

Aber "eine Lösung muss es geben". Hauptsache Dialog. Im Herbst soll eine neue Flotte in Richtung Gaza starten. Und, wen wundert's, Henning Mankell will, trotz seiner 62 Jahre, wieder dabei sein. Auch wenn Mitaktivisten berichten, dass Mankells Mut sich doch in überschaubaren Grenzen hält, wenn es darauf ankommt.

Ein deutscher Kollege sagt: "Als einige Journalisten ihre USB-Sticks und Mikrochips Mankell zum verdeckten Transport nach Europa zusteckten, gab er sie kurz darauf zurück."

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