Ausnahmeschauspieler Ulrich Matthes Der Seelenverkäufer
Einmal, auf einem wirklich uralt wirkenden Schwarzweiß-Theaterfoto aus dem Jahr 1985, reißt er sich beidhändig das Hemd vom Leib und entblößt seine damals noch sehr junge Heldenbrust, den Blick himmelwärts gerichtet und die Haarmähne kühn in den Nacken geworfen: "Ich schenk euch mein ganzes Herz!", scheint dieser Schauspieler seinen Kollegen auf der Bühne und den Zuschauern im Theatersaal zuzurufen.
Tatsächlich aber verhält es sich genau umgekehrt: Der Schauspieler Ulrich Matthes hat es auf die Eingeweide seiner Kundschaft abgesehen.
"Man will in die Herzen der Menschen hinein", sagt er einmal, dann scheint ihm einzufallen, dass viele Schauspielerkollegen oft nur so dahinsagen, wie sehr sie in ihrem Beruf die Menschen durch die eigene Kunst berühren wollen. Deshalb setzt er noch eins drauf und unterstreicht mit feierlichem Ernst und Ausrufezeichen: "Ich will da rein!"
Der große, stets superwache, auf der Bühne und vor der Kamera oft federleicht agierende Schauspielkünstler Ulrich Matthes ist ein sehr ernster und manchmal geradezu humorloser Mensch - das ist eine Erkenntnis, die das sympathisch locker zusammengestellte Buch "Backstage. Matthes" bereithält.
Nebenbei wird man darin natürlich daran erinnert, in welchen Aufführungen und Filmen Matthes mitgespielt hat: Im berühmten "Onkel Wanja" von Jürgen Gosch am Deutschen Theater in Berlin zum Beispiel im Jahr 2008, aber auch im nicht ganz so legendären "Hamlet" (als Titelheld) bei den Kreuzgang-Festspielen in Feuchtwangen 1983, in Tom Tykwers "Winterschläfer" von 1997 und in Oliver Hirschbiegels "Der Untergang" von 2004.
Vor allem aber gewährt das "Backstage"-Buch über den 1959 geborenen Schauspieler ziemlich intime Einblicke in Matthes Leben und die Geheimnisse seiner Kunst. Lustig und manchmal herzzerreißend sind die Bilder aus Matthes' Kinderzeit und aus seiner Bühnenkarriere, die das lange Gespräch illustrieren, welches der Dramaturg Michael Eberth mit Matthes geführt hat. Dazu gibt es ein paar Matthes-Farbporträts des Großfotografen Daniel Josefsohn, die im Vergleich zum freien Plauderton des Buchs und den in Schwarzweiß gedruckten Schnappschüssen fast ein bisschen angestrengt wirken.
Aber das ist schon in Ordnung. Weil Matthes hier unter anderem offenbart, wie schwer das Leichte ist, wie viel grimmiger Wissens-Ehrgeiz und Kunstwillen hinter dem Komödiantischen stecken, wie viel Gedanken- und Schweißarbeit es braucht, ein ziemlich lässiger, unumstrittener, rundum beliebter und geliebter Schauspielkönig zu werden, wie er einer ist.
Ulrich Matthes spricht über seine Kindheit als Sohn eines Journalisten im braven Westen Berlins, über erste Fernsehrollen als Kind und sein Lehramtsstudium an der FU. Bis heute merkt man ihm eine pädagogische Neigung an, wenn er etwa über dumm formulierende Mitmenschen sagt: "Die weise ich dann in ihre Schranken."
Er erzählt davon, wie er bei dem berühmten alten abgedankten Schauspielkönig Martin Held vorsprach ("Zum Tee wurde Teegebäck gereicht. Alles sehr stilvoll.") und der ihn an eine private Schauspielschule vermittelte. Über seine Anfängerzeit in Krefeld und Mönchengladbach, über Erfolge in Düsseldorf, München und Berlin. Wenn Matthes über seine Skepsis gegenüber dem sogenannten Regietheater redet, über Aufführungen, die er "ganz furchtbar" fand, dann ist das zwar entschieden, aber ohne polemische Schärfe: ein subjektives Urteil, dass die selbstkritische Ahnung enthält, dass er mit seinen Abneigungen auch völlig falsch liegen könnte.
Ulrich Matthes, so lernt man im Theater, im Kino und beim Lesen dieses Buchs, ist ein Beseelter. Und dazu ein kluger, oft von innen glühender Seelenverkäufer.
Über seine Wünsche für die Zukunft sagt er Eberth einmal: "Manchmal denke ich, weil ich eine bestimmte Bürgerlichkeit ausstrahle, wird zu wenig genutzt, dass so eine Art von Emphase, von höchster Emotionalität meine eigentliche Stärke ist. Die Regisseure kommen nicht auf die Idee, mich mit diesen Krachern zu besetzen." Man denke über ihn: "Der kann eben das Wohnzimmer, aber den Furor der klassischen Texte, den kann er nicht."
Man merkt doch bis heute: Dieser Teufelskerl würde sich am liebsten tagtäglich das Hemd vom Leib reißen und sein ganzes großes Herz entblößen, um sich in unseres einzukrallen.
Buch "Backstage: Matthes". Der Schauspieler Ulrich Matthes in Gesprächen mit Michael Eberth. Verlag Theater der Zeit, Berlin; 120 Seiten; 15 Euro.