Axel Milberg als "Doktor Martin" Typischer Fall von Mallmoor

Er war Kindermörder, Kommissar und Killertunte, jetzt versucht sich Axel Milberg als Serien-Landarzt. Nach ungewöhnlichem Rezept: "Doktor Martin" ist der Anti-Brinkmann - und tut viel dafür, dass ihn seine Patienten nicht mögen.

Doktor Martin trägt Anzug, Krawatte und buschige Augenbrauen statt weißem Kittel und Stethoskop. Er glänzt durch einen krassen Mangel an sozialer Kompetenz und pfeift auf ein fürsorgliches "Wie geht's uns denn heute?". Die Krönung: Er lässt so ziemlich jede Gelegenheit passieren, den spröden Ostfriesen im Küstenort Neuharlingersiel zu gefallen. Stattdessen geht er ihnen mit seinem beruflichen Ehrgeiz mächtig auf die Nerven. "Doktor Martin" ist die neue ZDF-Arzt-Serie mit einem grimmigen Hauptprotagonisten, der partout nicht gefallen will - genau das Richtige für Axel Milberg. "Ein Arzt, der das Wartezimmer betritt, alle rausschmeißt und sagt: Wer wirklich krank ist, soll sich melden. Großartig!"

Doktor Martin ist keine neue Erfindung. Es gibt die Figur bereits bei der britischen BBC. Martin Clunes spielt "Doc Martin" in der preisgekrönten Serie mit Schweinsgesicht und Segelohren. Die dritte Staffel ist gerade abgedreht. Ein verschrobener Landarzt, verfolgt von einer ihm verhassten Töle, für die kitschverwöhnten ZDF-Zuschauer? "Mir liegt der britische Humor", sagt Milberg. "Und da bin ich sicher nicht der einzige. Wir haben alle unser Bestes gegeben."

Regisseur Markus Imboden achtet aufs Detail, wenn er den fachlich brillanten, aber sozial inkompetenten Doktor Martin auf seine Patienten loslässt. Diese bescheinigen dem merkwürdigen Zugereisten, er müsse dringend selbst zum Arzt. Diagnose: Mallmoor. Symptome: unangepasstes und unfreundliches Auftreten.

"Diese englische Art, dass jemand keinen Anteil daran hat, dass er komisch wirkt, liegt mir. Auf diese Rolle hatte ich richtig Lust! Die Szenen - da ist einfach Licht im Saal, Party!", schwärmt Milberg, der in mintfarbenen Cordhosen und rosafarbenem Hemd zum Interview erscheint, die Brille auf die wenigen grauen Flusenhaare drapiert.

Stromlinienförmiges ödet ihn an

Schon als Kind, sagt Milberg, habe er es faszinierend gefunden, die skurrile Verwandtschaft zu beobachten: Den Onkel, der in Kriegsgefangenschaft war und in Motorrad-Ledermontur und mit einer ungeheuren Brille bei Familienfesten aufkreuzte, aber alles über Vögel wusste. "Solche Leute kamen mir am menschlichsten vor."

Die Gleichmütigkeit ob der Frage, was andere von ihm halten, hat sich Milberg vererbt. Er schert sich nicht drum, wenn er als Killertunte mit hennarotem Haar vom Set in den Flieger hetzen muss, weil er sonst den Anschlusstermin verpasst. Er schlendert bewusst durch das Leben, ein unbeschwerter Genießermensch mit Hang zum diabolischen Blick, voller Ironie und Wortwitz.

Das Stromlinienförmige ödet ihn an. Wäre es nach den weniger skurrilen Eltern gegangen, wäre Milberg heute Pädagoge an einem Kieler Gymnasium und höchstens Leiter einer Theater-AG. Ihre Investition in den Sohn: Eine behütete Kindheit mit Klavier- und Tennisstunden. Der Sohn dankt es artig mit guten Zensuren auf der altsprachlichen Kieler Gelehrtenschule. Doch unter dem Esstisch im feinen Stadtteil Düsternbrook scharrt er mit den Füßen. Der Drang, den Abgründen der bürgerlichen Welt zu entkommen, explodiert schließlich.

Fluchtartig verlässt Milberg nach dem Abitur die Heimatstadt Kiel und geht ans andere Ende Deutschlands, nach München. Dass das umsorgte Nesthäkchen so dermaßen ausbricht, hätten der Vater, ein Rechtsanwalt, und die Mutter, eine Ärztin, ihm nicht zugetraut. "Ich musste richtig weit weg, wo ich keine Hilfe von zu Hause bekomme - ich konnte also nicht nach Hamburg oder Berlin gehen."

Es wird eine der wichtigsten Entscheidungen seines Lebens. Ohne eine Menschenseele zu kennen, 700 Mark in der Tasche, stolpert er zunächst schüchtern durch die Isarmetropole. Beginnt Germanistik, Literatur- und Theaterwissenschaft zu studieren, nebenher jobbt er. "Es war nicht nur die Entfernung München-Kiel, es war manchmal wie ein neues Leben." Wenn er zurückkehrt in die Heimat, treten die Menschen aus seinem alten Leben wie Theaterfiguren auf. "Sie schienen wie von Theodor Storm in einer Novelle aufgeschrieben - ich war überrascht, dass es sie wirklich gab!"

Sein persönliches Kunstwerk: Seine Patchwork-Familie

Er beginnt an der Otto-Falckenberg-Schule mit dem Schauspielstudium, die Kammerspiele nehmen ihn noch währenddessen unter Vertrag. Milberg genießt es, seinen Spieltrieb, sein Talent auszuleben. Nur wenn die Eltern nach München reisen, um den Sohn auf der Bühne zu erleben, "war das schwierig für mich. Das Spielen ist gewaltig und maßlos, jenseits jeder Moral. Für meine Eltern war vieles zu wild, was wir da auf der Bühne zeigten."

Milberg spielt 17 Jahre lang Theater ohne Pause. Er arbeitet mit Regisseuren wie Peter Zadek, Dieter Dorn, Thomas Langhoff und Helmut Griem. Manchmal hat er 29 Vorstellungen im Monat plus Proben – und 2600 Mark netto am Monatsende. "Ein Leben wie im Rausch, aber ich verstand: Das ist Kunst! Das ist Goethe! Das ist Shakespeare!"

Die Euphorie reicht nicht ins Unendliche. "Das Theater hat eine ungeheure Sogkraft, das ist eine hermetisch abgeriegelte Welt." Als er 1998 fast die Hälfte seines Lebens im Theater verbracht hat, reicht es ihm. Ab jetzt steht er nur noch vor der Kamera. "Es ging nicht um den Beruf, es ging um mein Leben. Ich war nicht mehr glücklich. Ich bin es jetzt! Und wenn ich glücklich bin, kann ich auch glücklich machen."

Das gilt auch für sein Privatleben: Mit seiner Frau Judith, deren Söhnen Julius und Simon, seinem Sohn Moritz und dem gemeinsamen, fast vier Jahre alten Sohn August lebt er in München. "Ich finde es ein großes Kunstwerk, eine glückliche Familie zu haben und eine glückliche Ehe." Die Wochenenden sind für die Patchwork-Familie reserviert, das lässt er sich in seine Verträge schreiben.

Lieber Quasimodo als Superman

Das Theater vermisst er nicht. Er steht zu seinen Entscheidungen und den wenigen Filmen mit ihm, die verrissen wurden. Er weiß: "Zu meinem Beruf gehört viel Mut." Populär wird er 1995 als gestresster Familienspießer in "Nach fünf im Urwald", er brilliert als Kindermörder im Remake von "Es geschah am helllichten Tag" und hat seit 2003 eine feste Fangemeinde als verschrobener Kieler "Tatort"-Kommissar Klaus Borowski.

Er liebt Charaktere mit Macken, die Anti-Helden, die Sonderlinge. Milberg ist immer lieber Glöckner von Notre Dame als Superman, vor allem Genies gehen ihm gehörig auf den Wecker.

Ebenso die Spekulationen, welche Charakterzüge er welcher Rolle geliehen haben könnte. "Das sind so Verkleinerungen, da denke ich: Lass mich in Ruhe! Ich bin nicht böse oder gut oder gemein - das ist eine interessante Figur, die ich versuche, überzeugend zu verkörpern. Es ist merkwürdigerweise leichter, eine Figur zu spielen, die vollkommen anders ist als man selbst. Schwieriger hingegen, die Kompassnadel nur um 5 Grad zu ändern." Er sei nun mal nicht Jack Nicholson, der mal auf die Frage, wie viel Jack Nicholson in einer Figur stecke, blitzschnell antwortete: "85 Prozent!", erzählt er schmunzelnd.

Milberg bemüht sich, die unzähligen Figuren, die er schon spielte, zu verbannen, sich von ihnen zu lösen, sie nie mehr abrufen zu können. "Meine Hauptaufgabe ist es nach jeder Rolle, frei zu sein. Jegliche Erinnerung auslöschen. Kein Bild von irgendeiner Rolle mehr haben."

Und es gelingt ihm – mehr als er sich wünscht: "Ich schaue mir 'Doktor Martin' an und entdecke eine Bewegung oder einen Gesichtsausdruck, die mich selbst zum Lachen bringen, weil ich bis dahin keine Ahnung davon hatte, dass das meine Mimik oder Gestik ist. Ich sehe dann einen mir fremden Menschen."

Dieser fremde Mensch alias "Doktor Martin" schlittert in der Serie in eine kleine Romanze. Der Höhepunkt: ein Kuss. Der Landarzt öffnet danach irritiert die Augen und fragt die Angebetete: "Sie betreiben doch hoffentlich regelmäßig Zahnhygiene?" – "Ja", antwortet diese verdutzt. "Dann könnte es sich um einen gastroösophagealen Reflux handeln."

Typischer Fall von Mallmoor.


"Doktor Martin": Mi, 25.7., 20.15 Uhr, ZDF

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