Berlin Hauptstadt der Barbaren

Ist menschliches Leben möglich in der deutschen Hauptstadt? Falls ja: Wird die Zivilisation dort jemals ankommen? Der Berliner Alltag provoziert solche Gedanken - das neue Buch "Schaut auf diese Stadt!" widmet sich ihnen. Auszüge von Peter Richter, Claudius Seidl und Nils Minkmar

Es gibt viele Fragen, die das Leben in Deutschlands Hauptstadt Berlin aufwirft. Doch die schnellen Antworten sind meist die falschen, sagen Georg Diez, Nils Minkmar, Peter Richter, Claudius Seidl und Anne Zielke - darum haben sie ihr Buch mit "neuen Geschichten aus dem barbarischen Berlin" geschrieben. Die beiden Auszüge sind mit freundlicher Genehmigung der aktuellen "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" entnommen.

Berlin von oben (Fernsehturm am Alex): Barbarische Hauptstadt

Berlin von oben (Fernsehturm am Alex): Barbarische Hauptstadt

Foto: DDP

Georg Diez, Nils Minkmar, Peter Richter, Claudius Seidl, Anne Zielke: "Schaut auf diese Stadt - Neue Geschichten aus dem barbarischen Berlin", Kiwi Paperback, 207 S., 8,95 Euro

Die Kunst - wie in Berlins Galerien Kunststücke ganz eigener Art und Performances voll eigener Wahrheit entstehen.

Von Peter Richter und Claudius Seidl

Es hat immer schon die Weißwein-Vernissagen gegeben. Es gibt Rotwein-Vernissagen. Es gibt Bier-Vernissagen. Es gibt seit kurzem in Berlin einen Galeristen, der zu seinen Eröffnungen nur Wasser oder Wodka reicht. Und manchmal gibt es auch Champagner-Vernissagen, aber dort ist die Kunst meistens nicht besonders. Champagner gibt es normalerweise erst zu den Essen, die im Anschluss an die Vernissagen ausgerichtet werden.

Dass so gut wie alle, die mit Kunst zu tun haben, dauernd in Berlin sind, heißt also nicht, dass der Kunstbetrieb hier keine Probleme hätte. Weil sich die Vernissagen immer an ein paar ganz bestimmten Wochenenden ballen, hat er zum Beispiel das Problem, zu viel durcheinanderzutrinken. Und ganz genauso sehen die Kunstbetriebsangehörigen an den Sonntagen danach oft auch aus.

Das Vernissagenwesen hat wegen solcher Sachen immer schon ordentlich kulturkritisches Kopfschütteln auf sich gezogen: Frivol sei das, die Leute stünden mit dem Rücken zur Kunst, schrieen rum und seien am Ende alle nicht mehr nüchtern, wirkliche Liebhaber genössen in Stille.

Mal davon abgesehen, dass die Annahme, sich einem Kunstwerk nur im Zustand innerer Isolationsfolter nähern zu dürfen, womöglich auf einem bildungsbürgerlichen Grundirrtum beruht, mal abgesehen davon also, dass selbst die störrischsten Kunstwerke manchmal viel bereitwilliger zu einem sprechen, je gesprächiger man selber gerade drauf ist: Etwas Interessanteres als ein Freitagabend mit Vernissagenmarathon durch Berlin kann einem eigentlich gar nicht passieren. Wem die Leute nicht gefallen, der schaut sich die Kunst an – und umgekehrt. So funktioniert jede Vernissage im Grunde wie ein Vexierbild. Es ist deshalb auch kein Wunder, dass, wer Glamour will, diesen mittlerweile lieber auf den Terminen des Kunstbetriebs sucht als bei Berlinale-Partys, wo sich Vorabendschauspielerinnen die Beine in den Bauch langweilen. Wer was auf sich hält, stellt sich nicht mit dem ganzen Smallworld-Gesocks in Polsterdiskos, sondern geht zu Ausstellungseröffnungen nach Berlin-Mitte und hofft, dass er Hedi Slimane zu seinem schmalsten Anzug ever inspiriert. Es ist ja nicht so, dass der Kunstbetrieb nicht promigeil wäre. Es ist nur so, dass der Kunstbetrieb die sogenannten Prominenten, auf die er so geil ist, komplett ignoriert, wenn sie einmal da sind. Und manche meinen, das sei der Trick. Deshalb kämen sie überhaupt.

So entstehen an den Wochenenden oft Kunstwerke eigener Art, es entstehen Performances von eigener Wahrheit und immer wieder auch Momente großer Schönheit, besonders dann, wenn sich Kunst und Kulinarik kreuzen.

Schön war zum Beispiel der Abend in dieser kalifornischen Galerie, die in Kreuzberg eine Filiale mit einem Kuchenkunstwerk eröffnet hatte. Ein gigantischer Grabstein aus Kuchen. Alle waren begeistert, dann ging es nach nebenan zum Feiern, und als mitten in der Nacht jemand eine Foto-SMS von dem Kuchen schickte, musste man schon ganz genau hinsehen, um zu erkennen, dass der Kuchengrabstein auf dem Foto schon gar nicht mehr im Nachbarraum stand, sondern bei demjenigen zu Hause, der sich nun anschickte, das Kunstwerk aufzuessen, was nicht ohne kunsthistorische Referenzen war: Eine der legendärsten Ausstellungen der Neunziger in New York war die, bei welcher der Künstler eine Linie Kokain quer durch die Galerie gelegt hatte, ein Kunstwerk, das seine eigene Vernissage nicht überlebte, aber naturgemäß für ordentlich Gerede sorgte.

Schön waren bisher eigentlich alle Abende der Julia Stoschek, bei der es sich um eine Kunstsammlerin aus Düsseldorf handelt, die noch keine Dreißig war, als sie im Berliner Kunstbetrieb auftauchte, und in ihrem Tower-Apartment hoch über dem Potsdamer Platz augenblicklich zu dem wurde, was vorher so viele immer nur gewollt oder behauptet hatten, nämlich die Neuberliner Salondame zu sein, zu der wirklich alle wollten, und sei es nur, wie manche sich entschuldigten, der tollen Aussicht wegen. Man stand da hoch über Berlin. Die kritischsten Ironiker bekamen es hier mit entwaffnend freundlichen Anlageberatern aus Düsseldorf zu tun. Die kritischsten Hinterfrager saßen mit rheinischen Dressurreiterinnen am Tisch und diskutierten die Brechung von Sehgewohnheiten und/oder Pferdeknochen. Und wenn man sich verabschieden wollte, weil man nach dem vielen Champagner irgendwo noch eine Kleinigkeit essen gehen musste, wurde einem der Mantel wieder abgenommen, und der Zimmerservice vom "Ritz" brachte zweihundert Clubsandwiches mit Pommes frites unter gewaltigen Silberhauben.

Schön war es aber auch, wenn man nicht eingeladen war oder nicht kommen konnte, und dann traf man am nächsten Tag die, die dabei gewesen waren, und das Leuchten in ihren Augen war so hell, als spiegelten sich Banksafes voller Goldbarren darin. Viel hatten diese Leute eigentlich nicht zu erzählen, oder es fiel ihnen schwer, das, was es zu erzählen gab, in sinnvolle Sätze zu fassen. "Clubsandwiches, Hunderte", oder "fünfzehnter Stock, unfassbarer Blick hinunter auf die Stadt" oder auch: "Die Sofaecke ist größer als meine ganze Wohnung." Und die einzige Antwort, die man drauf geben konnte, war die: "Ich will da auch mal eingeladen sein!" Schön war dann natürlich erst recht, wie nach der Eröffnung der RAF-Ausstellung in den Kunst-Werken der ganze Tross unbedingt noch mitwollte zu dem Empfang oben bei Julia Stoschek, und dann standen schwarzgekleidete Männer und Frauen, die gerade noch sensibel vom "Andreas" und der "Ulrike" gesprochen hatten, da oben im fünfzehnten Stock, und einer zog aus seiner Umhängetasche die Broschüre, die auf sein letztes linksradikales Kunstkonzept hinwies, er holte sich ein Glas Champagner nach dem anderen, zog eine Broschüre nach der anderen heraus und drückte sie den Gästen in die Hände, und es sah aber nur so aus, als ob er den freigewordenen Platz in seiner linksradikalen Umhängetasche sofort mit Julia Stoscheks Champagnerflaschen füllte; leerer schien die Tasche nicht zu werden – und als alle Broschüren verteilt (und die meisten unter der größten Sofagarnitur Berlins gleich wieder verschwunden) waren, fing der erste linksradikale RAF-Ausstellungs-Künstler an, in Zimmerlautstärke nach den weltberühmten Clubsandwiches zu fragen. Und die Frau, die für kurze Zeit die Kultursenatorin gewesen war, hörte sich schon ein bisschen lauter an, als sie, obwohl sie zumindest kleidungsmäßig auch sehr linksradikal war an diesem Abend, die legendären Clubsandwiches geradezu forderte, in einem Ton, der nach "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" klang. Und dann, so klang es kurz nach Mitternacht, schien sich der ganze Kreis darauf geeinigt zu haben, dass zumindest dieses eine Menschenrecht sofort und notfalls auch mit Gewalt augenblicklich einzufordern sei: das Recht des Menschen auf ein Clubsandwich vom Zimmerservice des "Ritz-Carlton"-Hotels.

Und ganz besonders schön ist es, wenn bei solchen Gelegenheiten alle kauend meinen, der Wahnsinn hier sei im Grunde alles, was man brauche, um einen Schlüsselroman von balzacschen Ausmaßen zu schreiben, so etwas wie die "Verlorenen Illusionen" für das Berlin von heute. Und dass sie aber lieber noch ein bisschen weiterrecherchieren. Bevor sie nicht mehr eingeladen werden.

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Der Neue - wie sich der Berliner Frischling fürchtet, auf ewig als Provinzler zu gelten in der Hauptstadt.

Von Nils Minkmar

Das Restaurant war fast völlig leer, ein kühl eingerichteter Italiener zwischen Reichstag und Brandenburger Tor, in dem jeder Gast empfangen wird wie ein Bundesminister, was den Wirt von der Mühsal befreit, sich auf dem Laufenden zu halten.

Der Mann war neu in der Stadt, neu in seinem Job und schüchtern. Es war unsere erste Begegnung. Ich wusste kaum etwas über ihn. Der "Spiegel" hatte eine hämische Glosse gebracht, niemand hielt große Stücke auf ihn. Ich hatte geschrieben, dass es ihn vielleicht gar nicht gibt. Ein anderer hätte danach geklagt, er lud mich zum Essen ein.

Ich sei natürlich sein Gast, bemerkte er, als die großen Karten kamen. Fahrig und unschlüssig studierte er das Angebot. "Vielleicht Fisch..." "Ach ja, Sie kommen ja von der Küste..." "Jetzt komm’ ich gleich wieder von der Küste", stöhnte er, besorgt darum, auf ewig als Provinzler zu gelten in der Hauptstadt. Die ja wirklich, stellte er dann gleich fest, eine große Stadt ist.

"Kennen Sie etwa alle Stadtteile? Neulich habe ich mal Dahlheim gesagt statt Dahlem, da war was los." In Berlin-Dahlem befinden sich weltweit berühmte Museen und die Freie Universität. Das nicht zu kennen war, in seinem neuen Job, wie der Carmen-Thomas-Versprecher, nur viel schlimmer. Außerdem, so erzählte er weiter, habe er die Angewohnheit, Sitzungen oder Veranstaltungen aufzulockern, und zwar mithilfe von, wie er es nannte, "Dschokes". Leider, das war ihm jetzt, nach den paar Wochen im Job, schon klar, schätzte man in der Hauptstadt und noch dazu auf seinem speziellen Arbeitsgebiet solche "Dschokes" nicht sonderlich, da war antikapitalistische Relevanz im schwarzen Rollkragenpullover gefragt, kein gebräunter Profi im Nadelstreifenanzug, der flott die lieben Leute von Dahlheim begrüßt und dann noch einen "Dschoke" draufsetzt. Und von der CDU ist. Es sah, wie ich fand, nicht gut aus an diesem Abend für den Mann. Aber wir waren ja erst bei der Vorspeise.

Er wollte seinen Job gerne behalten, darum hatte er sich was überlegt: Bei jedem Termin ließ er sich die Namen der Anwesenden auf einen Spickzettel schreiben. Jede größere Rede oder Eröffnung versuchte er, auch vor Ort zu proben. Englische Ausdrücke ließ er sich in Lautschrift übersetzen. Wenn er keine großen Schnitzer machte, werde die Sache schon schiefgehen. Die Politik sei schließlich sein Beruf. Die Kollegen, auch solche, die nie ins Theater und in die Oper gehen, vertrauten ihm. Wenn er sein Gewicht in die Waagschale werfe, dann kämen die Stimmen für ein Projekt zusammen. Das habe er all seinen Amtsvorgängern, den Berühmten und Begabten, voraus. Er habe schon in vielen Bereichen gewirkt, erklärte er weiter, nicht ohne zu prüfen, ob mich das auch interessiert. Dann erzählte er von der Zeit des Mauerfalls, von Raumfahrt und Fischfang. Eigentlich brauche man überall dieselben Techniken und Methoden, Politik sei ein Handwerk. Er sagte das alles ohne die Bitterkeit, die ich von Politikern in seinem Alter gewohnt war, vielleicht weil er nicht aus der politischen Ecke kam, die ich am besten kannte, aus der man gestartet war, die Welt und das Leben zu verändern. Er dachte stattdessen über den nächsten Fußbreit nach und darüber, wie er den zu sichern vermochte. Die große Geste war ihm fremd, als sein Hobby gaben die offiziellen Biographien das Akkordeonspiel an.

Alle Politiker sind große Bluffer. Manche übertreiben ihre kulturelle Kompetenz, andere verbergen sie. Andere pflegen ein Spezialgebiet und langweilen damit ausgiebig ihre Zuhörer. Dann gibt es die Bush-Sorte, die einen Hammer nach dem anderen bringen und darauf vertrauen, dass es den Journalisten zu peinlich ist, sie darauf aufmerksam zu machen. Mein Gegenüber machte es anders und gab sich auf berührende Weise ungeschützt: Auch so nimmt man Journalisten die Angriffslust.

Später rief er mich noch einmal an. Er hatte gerade jenen hochgeehrten, aber notorisch unzufriedenen Schriftsteller besucht, über den wir an dem Abend gesprochen hatten, und obwohl der sich im Stillen sicher über den hohen Besuch gefreut hatte, hörte er nicht auf, über seine Vernachlässigung durch das Establishment zu jammern.

"Ist der immer so?", wollte der Neue wissen, ganz ergriffen von so viel schlechter Laune.

Viele Fallen seines neuen Arbeitsfeldes waren ihm ja bewusst gewesen, dass ein blöder Versprecher, eine unbedachte Äußerung, eine Namensverwechslung schon das Aus in diesem an symbolischem Kapital so überfrachteten Feld sein können. Aber dass eine düstere Sicht der Dinge und der Zeiten auch dazugehören, dass die meisten etablierten Kreativen davon überzeugt sind, dass alles immer schlechter wird, und sich auch trotz des von ihm sichergestellten Geld- und Preisregens nicht freuen, sondern bloß den nächsten gemeinen Trick des Systems wittern, das dürfte ihn doch verblüfft haben.

Es ging dann schneller, als ich gedacht hatte. Im Frühjahr sahen die Dinge für die deutsche Kultur verdächtig gut aus: Berlin hatte einen Oscar gewonnen. Die Anwohner einer grauen Straße in Friedrichshain wurden daraufhin zu Helden der Lokalpresse. Der Regierende Bürgermeister und das Medienboard reisten nach Hollywood, um dort für Berlin als Drehort zu werben, es gab sogar einen Feueralarm während eines Ute-Lemper-Konzerts in L. A., und Wowereit schaffte es damit mal wieder in die Berliner "Bild"-Zeitungsausgabe. Alle konnten zufrieden sein. Da schaltete ich ins Morgenmagazin des ZDF, gerade wurden die Nominierungen für den Deutschen Filmpreis verkündet, es war eine glanzvolle Sache und nach allen Kriterien ein tolles Filmjahr gewesen.

Doch der inzwischen nicht mehr ganz so Neue machte eine gravitätische, ja verzweifelte Miene: Andere Branchen bekämen Milliardensubventionen, da könne von einer angemessenen oder gar überreichlichen Unterstützung des deutschen Films keine Rede sein, erklärte er Cherno Jobatey, der prompt ebenso bestürzt zu gucken versuchte. Ich schaltete wieder aus, noch bevor er nach einem neuen Fassbinder verlangen, das Sterben der Programmkinos auf dem Lande beklagen oder das Fernsehen als Wurzel allen Übels anprangern konnte. "Dschokes" machte er keine mehr, er war wirklich in der Hauptstadtkulturszene angekommen.

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