Berliner Premiere Digitalkamera killt den Theaterstar

Die Britin Katie Mitchell, international als Theater-Revolutionärin gefeiert, inszeniert zum ersten Mal in Berlin. In der Schaubühne präsentiert sie August Strindbergs Geschlechterkampf-Drama "Fräulein Julie" - und setzt dabei einen Haufen Kameras ein.

Ein schlauer Theatermacher betreibe seine Arbeit wie ein Kriminalkommissar, findet Katie Mitchell: "Erst die Fakten. Und dann ziehen wir die Schlüsse daraus."

Nun ermittelt die 46-jährige britische Regisseurin in einem Fall von offenkundigem Selbstmord: Am Ende von August Strindbergs Theaterstück "Fräulein Julie" nimmt sich die Titelheldin, eine junge Adlige, mit einem Rasiermesser das Leben. Nur: Handelt sie aus freiem Willen oder ist sie das Opfer einer mörderischen Manipulation? Das 1889 uraufgeführte Stück erzählt davon, wie Julie erst mit dem Diener Jean in der Küche flirtet, während die Köchin Kristin, die mit Jean verlobt ist, durch den Raum schlurft und die beiden kritisch beäugt. Dann schläft die Köchin ein und Julie und Jean treiben es miteinander. Jean überredet das Mädchen, von ihrem Vater, dem Hausherrn, Geld zu stehlen und mit ihm, dem Diener, durchzubrennen. Doch als der Alte am Morgen auftaucht, hat der Angestellte sich's anders überlegt: Er ist wieder der beflissene Befehlsempfänger und drückt dem Fräulein Julie sein Rasiermesser in die Hand. Und Julie bringt sich um.

"In meinen Inszenierungen soll der Zuschauer das Gefühl haben, alles, was auf der Bühne geschieht, geschehe live", sagt Regisseurin Mitchell. Und wie in den meisten ihrer Aufführungen setzt sie dazu auch in ihrem Berlin-Debüt "Fräulein Julie", das an diesem Wochenende in der Schaubühne Premiere hat, einen Haufen Kameras ein. Mitchells Theater ist Filmarbeit und superexakte Schauspielerei auf offener Bühne, es verzichtet auf jeden traditionellen Guckkasten-Realismus und versteht sich als hochartifizielles Teamwork: Die filmenden Mitstreiter, die fast immer von Mitchells Co-Regisseur Leo Warner dirigiert werden, fangen die Aktionen der Darsteller ein, auf Bildschirmen sieht man Gesichter und filigrane Verrichtungen in Großaufnahme. So sieht man einem Film bei seiner Entstehung zu - und achtet plötzlich auf alle Details.

Multimedia in radikaler Werkstatt-Ästhetik

Die Story von "Fräulein Julie" schildert Mitchell aus der Sicht der Dienerin Kristin, die von der Schauspielerin Jule Böwe gespielt wird. Weil Mitchell aber oft gleichzeitig an mehreren Orten auf der Bühne an der Geschichte des Abends strickt, gibt es außerdem auch ein Double von Kristin und gleich zwei Frauen, deren Hände gefilmt und als Kristins gezeigt werden. Derlei Multimedia-Konzepte, präsentiert in einer ziemlich radikalen Werkstatt-Ästhetik, haben Mitchell und ihrem Team mittlerweile eine Menge Ruhm eingebracht: Die Digitalkamera killt bei ihr den herkömmlichen Theaterstar.

Mitchells Arbeiten wurden in London und Glyndebourne bejubelt und beschimpft, kein anderer Regisseur und keine andere Regisseurin, behauptete die Tageszeitung "The Independent" vor einiger Zeit, polarisiere das Publikum so wie diese Regisseurin.

In Köln und Salzburg gelangen Mitchell im vergangenen Jahr zwei spektakuläre Hits. Ihr Kölner "Wunschkonzert" nach einem Stück von Franz-Xaver Kroetz, das gleichfalls vom Selbstmord einer Frau handelt, wurde auch beim Berliner Theatertreffen als intellektuell brillantes und berührendes Ereignis gefeiert. Bei den Salzburger Festspielen verwandelte sie Luigi Nonos Oper "Al gran sole carico d'amore" über den Glanz und das Elend nahezu aller Revolutionen der Menschheitsgeschichte in einen grandios düsteren Verzweiflungsreigen.

Obwohl sie Gebärden und Geschichten so häufig in Fragmente zerlege, liebe sie im Grunde altmodisches psychologisches Theater, sagt Mitchell. Sie hatte eine gesittete Jugend in Berkshire und ein Literaturstudium in Oxford hinter sich, als sie sich 1989 auf den Weg nach Osteuropa machte, weil sie sich für die Theater hinter dem gefallenen Eisernen Vorhang begeisterte. In Moskau sah sie Aufführungen von Anatoli Wasiljew, in Petersburg Arbeiten des Regisseurs Lew Dodin, in Vilnius stieß sie auf die Kunst des bald weithin berühmten Eimuntas Nekrosius.

Schluss mit dem eitlen Grimassieren

"Plötzlich begriff ich, wie eng der Ansatz des britischen Theaters war, die Schauspieler vor allem wunderschön sprechen zu lassen", sagt die Regisseurin. "Dort im Osten stand nicht die Sprache im Zentrum des Interesses, sondern das Bemühen, jeweils eine ganze Welt zu erschaffen, in der sich die Menschen begreiflich machen."

In "Fräulein Julie" geht es um Klassenunterschiede zwischen Arm und Reich, schon gut, vor allem aber geht es um die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern. Nach der Liebesnacht ist der Diener Jean plötzlich der Stärkere und Julie die Erniedrigte. Ihren Darstellern (Jean wird in Berlin von Tilman Strauß gespielt, Julie von Laura Tratnik) ermögliche die Kameratechnik auf der Bühne erst die nötige Präzision und Ruhe, sagt Katie Mitchell: "Ich setze die Videobilder vor allem deshalb ein, damit die Zuschauer die Gesichter der Schauspieler von Nahem sehen können. Ich kann es nicht leiden, wenn die Darsteller ihr Spiel vergrößern, nur weil das Publikum ab Reihe fünf sonst nicht mitbekommt, was sich in ihren Gesichtern abspielt."

Die viel zu laute, pompöse Großschauspielerei hat Katie Mitchell an berühmten Häusern wie dem Londoner National Theatre oder der Royal Shakespeare Company schon vielen Darstellern auszutreiben versucht. Das eitle Grimassieren setzte ihr so zu, dass sie gar nicht anders könne, sagt sie: "Wenn ich diese Sorte Vergröberung sehe, empfinde ich wirklich körperlichen Schmerz."

Fräulein Julie. Premiere am 25.9. in der Schaubühne Berlin. Auch am 27.9.; zwischen dem 30.9. und 6.10. täglich (außer 4.10.).

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