Berlin-Premiere der "Brüder Karamasow" Spannendes Spiel um die letzten Dinge

Gruschenka (Kathrin Angerer) und Dmitrij (Marc Hosemann) erörtern westliche Wirtschaftsmodelle vor Stalin-Konterfei
Foto: Thomas Aurin1240 Buchseiten. Erbitterte philosophische Debatten über Gott und die Welt, die sich ohne Punkt und Komma über fünf Kapitel ergießen können. Und Figuren, die bei unsachgemäßer Behandlung schnell in papierenen Thesenträgerverdacht geraten. So lässt sich, in Kürze, Fjodor M. Dostojewskis letzter Roman "Die Brüder Karamasow" umreißen.
Wenn man jemandem zutraut, dieses Mammutwerk auf die Bühne zu bringen, dann ist das Frank Castorf. Der Intendant der Berliner Volksbühne gehörte noch nie zu denen, die Buchinhalten auf der Bühne szenisch brav hinterherklappern. Vielmehr hat man an guten Castorf-Abenden das Gefühl, von einem klugen Textanalytiker auf einen bewusstseinserweiternden Roman-Trip eingeladen zu werden. Castorf schichtet hier ein bisschen Stoff um, beißt sich da an einem substanziellen Aspekt fest und lagert dort Assoziationen oder fremde Texte an, die die Zuschauer-Hirne zu völlig neuen Synapsenverbindungen inspirieren können. Wer ab und zu ins Theater geht, weiß um den Seltenheitswert dieses Vorkommnisses.
Besonders einige von Castorfs Dostojewski-Roman-Adaptionen erreichten über die Jahre regelrechten Kultstatus. Wenn Ende der Neunziger-, Anfang der Nullerjahre die "Dämonen" in Berlin auf offener (Volks-)Bühne im Pool planschten oder die "Erniedrigten und Beleidigten" Schlittschuh liefen, pilgerte man dorthin wie heute ins Berghain.
Logisch also, dass der Castorf-Exegese des letzten Dostojewski-Romans an der Berliner Volksbühne, die 2017 vom Museumskurator Chris Dercon übernommen wird, mit Höchsttemperatur entgegengefiebert wurde. Zwar war der sechseinhalbstündige Parforceritt bereits im Mai in Wien bei den co-produzierenden Festwochen herausgekommen. Nach der Premiere mussten dort aber alle weiteren Vorstellungen wegen Erkrankung mehrerer Schauspieler abgesagt werden.
Freie Sackwahl
Jetzt, beim Berliner Heimspiel, ist schon der Raum eine unmissverständliche Ansage. Es ist der letzte, den Castorfs im Sommer verstorbener Co-Denker, der Volksbühnen-Chefdesigner Bert Neumann, entworfen hat. Die Zuschauer kommen in einen komplett entstuhlten, vollständig asphaltierten Raum - und haben auf dem unwirtlichen Boden "freie Sackwahl", wie die Schauspieler einmal kalauern. Man lümmelt auf Sitzsäcken - mit freier Sicht auf das Haus des Unsympathen Fjodor Karamasow. In dessen Bretterbude mit waschechtem russischen Datscha-Charme herrscht schon deshalb reges Kommen und Gehen, weil der Alte vier Söhne hat; drei eheliche und einen unehelichen. Und jeder von ihnen verkörpert nicht nur ein bestimmtes Daseinsprinzip: Dmitrij (Marc Hosemann) die Leidenschaft, Iwan (Alexander Scheer) den analytischen Intellekt und der religiöse Aljoscha (Daniel Zillmann) die "tätige Liebe". Sondern sie alle tragen sich auch mit intensiven Vatermord-Gedanken.
Das dürfte spätestens dann auch den überzeugten Pazifisten einleuchten, wenn sie gesehen haben, wie kongenial der Schauspieler Hendrik Arnst den dostojewskischen Frauenverbraucher, Fiesling und Jammerlappen in der Volksbühne in eine Art Berliner Hausmeister-Gegenwart kippt.
Überhaupt gelingt Castorf und seinen durchweg auf Höchstniveau agierenden Schauspielern das seltene Kunststück, den 135 Jahre alten Roman wie ein Zeitdokument klingen zu lassen, ohne dabei in Unterkomplexität oder plakative Zwangsaktualisierungen zu verfallen. Castorf übersetzt die großen Daseinsfragen um Liebe, Tod, Gott und Materie, für die man beim Lesen einen langen Atem braucht, tatsächlich in eine überraschend 2015-kompatible, verzweiflungsvitale Erlösungssehnsucht von höchster aggressiver (und autoaggressiver) Dringlichkeit. Lange sah man die tollen Volksbühnen-Schauspieler, von Sophie Rois über Jeanne Balibar bis zu Frank Büttner, nicht derart konzentriert: Es ist wirklich ein Spiel um die letzten Dinge; keine Mätzchen, kein Kalauer-Exit, nirgends.
Einige intensive Szenen sind per Video zu verfolgen
Besonders intensiv wird das in den Szenen, die man nur per Video verfolgen kann. Links neben den Sitzsäcken zieht sich eine große Sperrholzbretterwand entlang. Dahinter: eine ganze Bühnenlandschaft mit Räumen, die die Karamasows in ein zwischen (östlicher) Orthodoxie und (westlichem) Liberalismus schwankendes Heute holen. Wenn sich die Brüder dort zwischen rosageblümtem Sexshop und karger Kirchenbank die Seele aus dem Leib philosophieren oder Alexander Scheer die berühmten Gedanken über den "Großinquisitor" gar auf dem Volksbühnendach zwischen den Leuchtbuchstaben des "Ost"-Schriftzugs durchturnt, ist das für die Zuschauer nicht unmittelbar einsehbar. Es wird von wuselnden Kameraleuten live gefilmt und auf eine große Leinwand übertragen: ein bewährtes Castorf-Prinzip, das hier allerdings zu seiner vorläufigen Intensitätsmeisterschaft kommt.
Selten waren Bühnenfiguren zugleich so heutig und wussten dabei derart genau, wo sie herkommen. Kathrin Angerer als von zwei Karamasows umschwärmte Gruschenka entwickelt ihre kapitalistischen Geschäftsmodelle vor einem Stalin-Jugendbildnis - und kommt dann nahtlos auf eine russische Gegenwart zu sprechen, in der das Faschistoide den Schulterschluss mit dem Stalinistischen probt. Ihre Gegenspielerin Katerina (Lilith Stangenberg) entfaltet ihren Lebensplan unterdessen im Mädchenzimmer (West) vor lasziven Popidolen: "Ich will mein Leben sinnvoll gestalten. Sport, gesundes Mittagessen, Revolution, Lesen, eine Zigarette, um elf schlafen."
Wen das auch nur ansatzweise anficht, der sollte diesen großen, zu Recht umjubelten Abend in der Volksbühne keinesfalls verpassen!
"Die Brüder Karamasow": Inszenierung von Frank Castorf an der Berliner Volksbühne . Weitere Vorstellungen: 8., 14., 20., 22., 27. und 29. November. Karten unter Telefon 030/240 65 777