Biermann über Lustiger "Seine Elite-Unis hießen Auschwitz und Buchenwald"

Arno Lustiger (hier im Jahr 2008): Überlebt, um Heldentaten zu überliefern
Foto: Arne Dedert/ picture-alliance/ dpaWenn ich öffentlich über meinen Freund Arno Lustiger reden will, gerate ich leicht in eine viel zu lange Geschichte seiner Leiden in der Schoah als KZ-nik, seine erschütternde Geschichte als Überlebender in den finsteren Nazi-Zeiten. Aber hier und heute, da Arno Lustiger mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wird, will ich um diesen Leidensweg eines polnischen Juden nicht viel Worte machen, denn solch einen Orden in der Bundesrepublik gibt's nicht für erlittenes Unrecht - er sollte schon gar nicht verliehen werden für demokratisch verlarvte Lumpereien, wohl aber für Taten, mit denen sich ein Bürger besonders verdient gemacht hat gegenüber dem Gemeinwesen Deutschland, in unserer ersten einigermaßen stabilen Demokratie, will sagen: in diesem lange zerrissenen und nun vereinigten Vaterland.
Erst im letzten Drittel seines Lebens wurde Arno Lustiger, was er womöglich von Natur aus immer war: kein Geschichten-, sondern ein Zeitgeschichte-Erzähler: ein Historiker. Arno Lustiger wird heute hier im noblen Schloss Bellevue am Spreeufer vom Ersten Staatsdiener und Bundespräsidenten nicht etwa als Bourgeois geadelt, sondern als Citoyen. Er ist ein zu Lobender, ein zu Ehrender, weil er ein zugleich tapferer und hochkalibriger Fachmann wurde, ein Mann für das schwierige und schwer umstrittene Spezialfach: jüdischer Widerstand in den Jahren der Schoah.
Arno Lustiger wuchs auf in Südpolen, in der oberschlesischen Stadt Bendzin. Nach dem Einmarsch der Deutschen im Jahre 1939 war für Juden auch dort Schluss mit dem Gymnasium. Nun lernten die Schüler, wie ihre Lehrer, nur noch das Eine: Überleben. Sich verstecken. Nicht verhaftet und deportiert werden.
Todesmärsche überlebt
Ab 1943 geriet der junge Mann auf seine Höllenfahrt durch die verschiedenen Konzentrationslager und überlebte die Todesmärsche in dem Alter, wo man die besten Chancen hat, etwas länger Hunger und Kälte und Foltern auszuhalten. Er besuchte also keine Vorlesungen, er absolvierte als Arbeitssklave seine grauenhaft lehrreichen Studienjahre. Seine Elite-Universitäten hießen damals Auschwitz und Buchenwald und das KZ Langenstein im Harz.
Am Ende dieser Odyssee lag Arno Lustiger bewusstlos im Straßengraben, halbtot fanden Panzersoldaten der US-Army den KZ-Häftling und schleppten ihn ins Militärhospital. Romanhaft kompliziert war dann seine Lebensgeschichte nach dem Krieg. Aber zugleich sehr einfach: Dieser Mann überlebte, um den nachfolgenden Generationen Zeugnis abzulegen gegen das Vergessen - und das nicht nur in Bezug auf die Millionen Opfer, sondern insbesondere im Gedächtnis an die kleinen und großen Heldentaten des jüdischen Widerstands. Er stellte die Frage und fand überzeugende Antworten auf die Frage: Was ist eigentlich Widerstand? Wo fängt er an, wo hört er auf? - Ein Stück Brot einem hungernden Kind zugesteckt. Ein liebes Wort geflüstert hinter Stacheldraht. Eine Pistole gekauft und ins Ghetto geschmuggelt. Ein Liedchen auf der zerbrochnen Fiedel. Der bewaffnete Kampf. Partisanenkrieg.
So wurde Arno Lustiger zum Chronisten der jüdischen Kämpfer - und nicht immer nur der jüdischen Opfer. Er beackert als Historiker diese Felder in Russland, in Osteuropa, in Deutschland, Frankreich, Holland, bis hin zum Spanischen Bürgerkrieg gegen den Putsch des Faschisten General Franco. Den Forscher trieb dabei eines an: Der Zorn und die Scham und der Kummer über eine wohlfeil verbreitete Auffassung: All diese Juden hätten sich ja nicht gewehrt, sie seien wie die Kälber zur Schlachtbank getrottet. Diese Geschichtslüge empörte meinen Freund Arno offenbar nicht weniger als die "Auschwitz-Lüge", weil ja die Leugnung des geleisteten Widerstands - in die Sprache plappernder Dummheit übersetzt - nichts anderes bedeutet, als: selber Schuld! Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt ... und stirbt sogar verkehrt.
Sabotage im Hafen
Diese Problematik war jahrelang ein heißes Eisen in der Historiker-Zunft, ist auch heute noch ein heikles Thema und bestens geeignet für heftigen Streit von Amerika über Europa bis nach Israel, also auch unter den Juden selbst. Der Historiker Arno Lustiger widersprach nicht nur, er belegte seine Behauptung durch akribische Nachforschungen in jiddischen und israelischen, in sowjetischen und polnischen und deutschen und französischen Archiven. Er unterfütterte seine Thesen durch die Befragung von kompetenten Zeitzeugen. Er fand Dokumente des kleinen Aufruhrs, der großen Rebellion und des organisierten Kampfes.
Heute hat sich weltweit seine bessere Lehrmeinung durchgesetzt: Ja, es gab Millionen hilfloser Opfer, aber es gab eben auch einen starken jüdischen Widerstand. Schwach war er, zu schwach, aber stärker, viel stärker jedenfalls, war der jüdische als etwa der Widerstand in der Wehrmacht. Den feiern wir Deutschen - jedes Jahr. Wir würdigen aus guten Gründen der Selbstachtung, wir wollen wieder zu uns selbst kommen, wenigstens im schwierigen Gedenken an Stauffenbergs Tyrannenmord, an das missglückte Attentat auf seinen Führer und Oberbefehlshaber Adolf Hitler.
Wie stark und wirkungsmächtig die Opfer des Holocaust sich wann und wo wehrten, darüber kann man heute noch streiten, aber nicht über die infame Behauptung, es habe so gut wie keinen Widerstand der jüdischen Opfer gegen die Massenmörder gegeben. Allein mein ermordeter Vater Dagobert Biermann ist schon ein Beweis, der mir aus sentimentalischen Gründen reicht: Als ich noch im Bauch meiner Mutter schlief, sabotierte ihr Mann, der Jude und Kommunist im Hamburger Hafen im Jahre 1936 die Waffenschiffe via Franco-Spanien, beladen mit Panzern, Flugzeugen, Munition, Kanonen - alles Nachschub für die Legion Condor - als Friedensfrachter kaschiert. Was Wunder - auch deshalb verbindet mich mit Arno Lustiger besonders tief sein Buch über den tapferen Kampf der Juden im Spanischen Bürgerkrieg.
Lieber Arno, auf weniges bin ich kindlich stolz. Und ob von hier und heute eine neue Epoche der Weltgeschichte anfängt, das sei mit leisem Lächeln dahingestellt. Aber stolz auf eines sind auch meine Frau Pamela und ich heute, sehr stolz sogar können wir darauf sein, dass wir in diesem ewigen Freiheitskrieg der Menschheit Deine Chaverim sind und sogar innige Freunde wurden. Wenn ich heute nun das Große Bundesverdienstkreuz an Deiner Brust leuchten sehe, na, dann denke ich mit ironischem Vergnügen an den pathetischen Satz des Geheimrats Goethe nach der Schlacht von Valmy im Jahre 1792: "... und Ihr könnt sagen, Ihr seid dabei gewesen!"