Bildungssender BR-alpha Zauberhaft der Zeit entrückt
Gehören Sie auch zu den Menschen, die (vor-)mittägliches Fernsehgucken für grundsätzlich daneben halten? Die diese Einstellung sogar so verinnerlicht haben, dass sie TV-Konsum am helllichten Tag sofort als Anzeichen von Phlegma und Krise deuten? Und die solch beklagenswerten Zeitgenossen, die schon tagsüber vor der Flimmerkiste hocken, gern Sätze entgegenschleudern wie: "Weißt du nichts Besseres mit deiner Zeit anzufangen?" Dann prüfen Sie doch bitte künftig vorher, welches Programm die potentiell antriebslose Couchkartoffel eingeschaltet hat. Es könnte sich schließlich um BR-alpha handeln und in diesem Fall sollten Sie andere Maßstäbe anlegen.
Wahrscheinlich muss man einmal an einem verregneten Samstagmittag in einen aus den Siebzigern stammenden "Telekolleg"-Sprachkursus Russisch geraten sein, um den ganzen Zauber des bayerischen Bildungskanals zu ermessen. Wenn da im szenischen Einspieler ein freundlicher Finne beim Grenzübertritt nach Russland gezeigt wird und anschließend eine Familie in bester "Loriot"-Manier auf dem Sofa Geschlechterendungen repetiert, möchte man glatt nochmal die Schulbank drücken. Erst recht, wenn zwischen den Unterrichtseinheiten unter der Rubrik "aha" noch so nutzerfreundlich kompakt Redensarten erklärt werden: "Einen Stein bei jemandem im Brett haben" bezieht sich zum Beispiel auf ein Brettspiel; erstmals erwähnt ist die Wendung in der Sprichwörtersammlung von Johann Agricola, 1529.
Verbunden werden die geistreichen BR-alpha-Sendungen darunter so verdienstvolle Formate wie "Deutsch Klasse" (Sprachkurs für Einwanderer) und "Das Kreuz mit der Schrift" (über Analphabetismus), das frische Jugendmagazin "blaa-teen" und die Philosophie-Spielserie "Kant für Anfänger" durch eine Aristoteles-Weisheit: "Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile", erinnert eine Einblendung, dazu erklingt ein sphärisch-chilliges Musikmotiv mit der Textzeile "Im ready to flow".
Geld lieber in Inhalte stecken
Der seit Januar 1998 existierende und vom Bayerischen Rundfunk betriebene Kanal, den in Deutschland knapp 60 Prozent aller Haushalte empfangen können, stellt in vielerlei Hinsicht ein Kuriosum der Senderlandschaft dar nicht nur, weil er gänzlich ohne Spielfilme, Sportübertragungen und Shows auskommt. Bei einem Gesamt-Jahresbudget von 13 Millionen Euro für Redaktion und Produktion verfügt BR-alpha über einen Programmetat, der etwa der Hälfte des Marketingetats von Arte entspricht. Gleichwohl erreicht das von zehn festen und 30 freien Mitarbeitern hergestellte Programm im Kernsendegebiet Bayern nur unwesentlich geringere Marktanteile als der deutsch-französische Kulturkanal wobei die Quoten offiziell nicht mal erhoben werden, weil man das Geld, das eine Messung durch die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) kosten würde, lieber in Inhalte steckt. Darüber hinaus kann der Nischensender einen Zuschauerschnitt vorweisen, der ihn zum zweitjüngsten ARD-Programm nach dem Kinderkanal macht. Das sagt allerdings vor allem etwas über die Altersstruktur des ARD-Publikums aus, denn der Mittelwert der BR-alpha-Klientel liegt bei stolzen 52 Jahren.
Dass mit derartiger finanzieller und personeller Ausstattung kein aktuelles, eigenproduziertes Vollprogramm gestemmt werden kann, versteht sich derzeit beträgt der Anteil der Neuproduktionen etwa 30 Prozent. Senderchef Werner Reuß, zugleich beim Bayerischen Fernsehen zuständig für den Bereich Wissenschaft, Bildung und Geschichte, träumt perspektivisch von einer Steigerung auf 50 Prozent. Einstweilen aber gilt: Für neue Projekte muss im Zweifelsfall Bestehendes geopfert werden. So wurde dem Renommierformat "Alpha-Centauri", in dem der Astrophysiker Harald Lesch letzten Fragen nachgeht ("Wie dünn war die Ursuppe?"), eine Produktionspause verordnet derzeit laufen alte Folgen, im Jubiläumsjahr 2008 solls weitergehen. Und auch die 45-minütige tägliche Interviewsendung "Alpha-Forum" (20.15 Uhr) kommt häufiger aus der Konserve.
Top-Star mit Pinsel
Das Verrückte ist, dass diese vermeintliche Unzulänglichkeit den Sympathiefaktor des Senders erhöht: Was andernfalls vielleicht beflissen und elitär daherkäme, wirkt so angenehm unprätentiös und bescheiden. Gezwungen, vieles aus den Archiven der ARD-Anstalten und des Kooperationspartners ORF zu schöpfen, gelingt es den Machern, aus diesen Rahmenbedingungen Honig zu saugen und den Aspekt des Zeitentrückten zur Stärke umzudeuten.
Unbedingt empfehlenswert ist in diesem Zusammenhang der Genuss der 25 Jahre alten "Tagesschau"-Ausgaben, die allabendlich um 19.45 Uhr unter der Rubrik "Viertel vor " ausgestrahlt werden. Faszinierende Einsichten in Kontinuität und Wandel sowohl der Nachrichtenpräsentation als auch der Weltläufe sind garantiert. Wer das Angebot dieser Tage wahrnimmt, erlebt die letzten Monate des Bundeskanzlers Helmut Schmidt, sieht, wie zwischen Israel und Libanon auch damals schon Gewalt regierte, wird zurückversetzt in die Zeit, als in Südafrika noch Apartheid, in der DDR Honecker und in Polen das Kriegsrecht herrschte.
Zu ganz später Stunde, auch schon mal gegen 2 Uhr, kommt schließlich noch einer der Top-Stars von BR-alpha zum Einsatz: Dann packt der US-amerikanische Maler Bob Ross Pinsel und Farbpalette aus. Der Mann mit der Afro-Frisur und dem sanften Singsang, der bereits 1995 an Krebs gestorben ist, besitzt bis heute eine überaus vitale Fangemeinde. Seine offenbar zahllos vorhandenen halbstündigen Shows ("The Joy of Painting"), in denen er mit seiner berühmten "Nass-in-Nass-Methode" jeweils ein komplettes Bild auf die Leinwand wirft, um die Menschen zum Ausleben ihrer Kreativität zu ermutigen, sind in der Tat ein erstaunliches, geradezu spirituelles Erlebnis. Danach geleiten Wellenrauschen und die "Earth Views" der legendären "Space Night" den Zuschauer in den Schlaf.
Wie bitte? Zu solchen Zeiten schauen Sie kein Fernsehen mehr? Ach was, wenns doch der Bildung dient. Sie müssen ja am nächsten Morgen nicht gleich schon den Latein-Kurs mitmachen. Wer BR-alpha schaut, muss sich drauf einlassen: Dieser Sender ist eben in jeder Hinsicht aus der Zeit gefallen.