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Marianne Birthlers Erinnerungen: Bis der Körper rebellierte

Foto: Sean Gallup/ Getty Images

Biografie von Marianne Birthler Bei Kanzler Schröder zum Stasi-Talk

Sie war Revolutionärin, Abgeordnete, Ministerin, Chefin von Bündnis 90/Grünen und Stasi-Beauftragte. Nun hat Marianne Birthler ihre "Erinnerungen" zu Papier gebracht. Das Buch einer Frau, die sich zwischen Zigarren im Kanzleramt und Parteichaos allzu oft selbst verlor.

Dieses Buch gibt Anlass zur Verwunderung: über die eigene Vergesslichkeit und über das Tempo, mit dem Menschen aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden. Marianne Birthler zählt zu den Menschen, um die es still geworden ist. Es käme auf ein kleines Experiment unter Kollegen an: Weißt du noch, welche Posten Marianne Birthler hatte?

Nun bringt sich Marianne Birthler, Jahrgang 1948, wieder ins Gespräch. Und sie tut es auf ihre ruhige und kluge Weise. Ihre "Erinnerungen" sind ein guter Auftakt für das große Gedenkjahr, 25 Jahre nach dem Fall der Mauer. Wer sich von dem etwas sperrigen Buch-Titel ("Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben") nicht halb oder ganz abschrecken lässt, der bekommt eine differenzierte Alltagsgeschichte zu lesen: die einer mutigen Frau und Mutter aus der DDR, die sich in der Bürgerbewegung engagierte.

Ihre Erinnerungen an den Schulalltag zählen zu den stärksten Passagen dieser Lektüre. Denn Birthler beschreibt eben nicht nur den ideologischen Druck der sozialistischen Schule. Sie erzählt auch von den "kleinen Inseln der Angstfreiheit". Sie schreibt über die Lehrer, die auf dem "Klassenstandpunkt" beharrten und jene, die Kreativität förderten. So entsteht ein DDR-Bild jenseits der Schlagworte. Dieses Land war, so formuliert sie, "Bruchbude" und gleichermaßen "Zuhause."

Nicht minder lesenswert sind Birthlers Erinnerungen an ihre politische Karriere nach 1990. Die Autorin lässt sehr persönliche, zum Teil schmerzliche Einblicke zu, etwa über ihren Konflikt mit Manfred Stolpe. Die Geschichte trug sich 1992 zu . Marianne Birthler war damals Bildungsministerin in Brandenburg, Stolpe war Ministerpräsident, Chef einer rot-grün-gelben Koalition, der auch die populäre Sozialministerin Regine Hildebrandt angehörte.

Es war die Zeit der Stasi-Enthüllungen. Nach und nach wurden auch die früheren Kontakte Stolpes zum Staatssicherheitsdienst bekannt - und zur Belastung für die Regierung. Stolpe, so schreibt sie, habe von ihr damals in einem Vier-Augen-Gespräch Loyalität verlangt. Sie, die einstige Bürgerrechtlerin, sollte dem Regierungschef versichern, ihn nicht mehr öffentlich zu kritisieren. Birthler versprach, seine Forderung zu akzeptieren. Doch wenig später habe gegen diese Zusage nicht nur ihr Verstand rebelliert, sondern auch ihr Körper: "Ich rannte aufs Klo und übergab mich." Birthler trat zurück. Einer ihrer bürgerbewegten Weggefährten blieb damals im Ministeramt: Matthias Platzeck, der später Stolpes Nachfolger wurde.

Die vielen Kämpfe

Zerrissenheit spricht aus vielen Zeilen, Zerrissenheit, über die Politiker während ihrer aktiven Zeit nicht sprechen, weil es so schwer ist, Schwäche zuzugeben. Von ihrer "inneren Stimme" schreibt Marianne Birthler, auf die sie nicht immer gehört habe. "Unterirdisch" sei ihr an dem Abend zumute gewesen, an dem sie die Bündnisgrünen 1993 zur Parteisprecherin wählten, gleichberechtigt mit Ludger Volmer. Fremd war ihr damals diese Grünen-Welt mit ihrer Quotenarithmetik, den verfeindeten Parteiflügeln und der sagenhaften Streitkultur.

Kurz vor einer Parteitagsrede wünschte sie sich einfach weg. "Weg aus diesem Saal, weg aus Bonn." Aber sie konnte nicht fliehen. Sie musste ja reden. Ihr Versuch, den West-Grünen ein paar Ost-Intellektuelle näher zu bringen, scheiterte kläglich. Birthler beschreibt die Schlüsselszene köstlich: Da trafen ein paar ostdeutsche Schriftsteller in einer Kneipe im Prenzlauer Berg in Berlin mit einem lustlosen Joschka Fischer zusammen, dem der Osten offenbar egal war, der wortkarg in seinem Salat stocherte und schlechte Laune verbreitete. "Es war einfach nur peinlich." Ihr Fazit aus dieser Zeit: "Nie wieder ein Parteiamt!"

Ost-West-Konflikte prägten auch ihre Jahre als Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen. Im Oktober 2000 übernahm sie das Amt von Joachim Gauck, dem heutigen Bundespräsidenten. Diesmal hatte sie es mit Alt-Kanzler Helmut Kohl zu tun, der sich gegen die Herausgabe einer ihn betreffenden Akte wehrte. Es ist der politisch spannendste Teil des Buches. Denn es ging um das Erbe der Revolution von 1989 und die Frage, wie offen zugänglich die Akten bleiben. Kohl hatte einen wichtigen Unterstützer: Otto Schily, damals Bundesinnenminister. Schily betrachtete sich offenbar als ihr Vorgesetzter. Er drohte ihr. Sie wurde ins Kanzleramt bestellt, wo sie Gerhard Schröder empfing, natürlich mit Zigarre und Rotweinflasche. Es ging wieder um die Akten-Herausgabe, Schröder war auf Schilys Seite. Aber Birthler wehrte sich erfolgreich. Die Akten bleiben offen.

Birthler ist stolz auf diesen Sieg. Aber die vielen Kämpfe ihres Lebens haben Kraft gekostet. Und Kraft scheint dieser Frau manchmal auszugehen. Birthler schreibt über Albträume, sie erleidet einen Hörsturz, muss ins Krankenhaus. Einsamkeit spricht aus solchen Zeilen und tiefe Traurigkeit.

Es bleibt dem Leser überlassen, die Gründe dafür in diesem Buch und in diesem Leben zu finden. Vielleicht in dieser Passage?

"Endlich war ein bisschen Ruhe in mein Leben eingekehrt. Was hatte sich alles in den letzten fünf Jahren verändert! Auch privat: Meine Kinder waren inzwischen erwachsen. Die Dauerbelastung, die Reisen und das Pendeln zwischen Berlin und Bonn hatten viel zu wenig Zeit und Aufmerksamkeit für sie übrig gelassen."


Marianne Birthler: "Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben". Hanser-Verlag, Berlin; 432 Seiten; 22,90 Euro.

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