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Oscar Niemeyer: Brasiliens Kurvenstar

Foto: Felipe Dana/ AP

Zum Tode Oscar Niemeyers Herr der Kurven

Oscar Niemeyer verlieh selbst gigantischen Bauwerken Weichheit und Leichtigkeit. So schuf der Star-Architekt aus Brasilien einige der anmutigsten und aufregendsten Konstruktionen des 20. Jahrhunderts. Jetzt ist der Schöpfer der Hauptstadt Brasília im Alter von 104 Jahren verstorben.

"Das alltägliche Glück in das flüchtige Leben bringen." So hat Oscar Niemeyer einmal sein Tun beschrieben. Gelungen ist ihm weit mehr als das. Der brasilianische Kurvenstar der Architektur schuf in Brasília, Rio und anderswo schwingende Formen von manchmal überwältigender Schönheit, die sich schwelgerisch in den Stadtraum, die Landschaft und in die Zukunft hinauslehnen.

In seinem Büro in Rio, einem Art-déco-Haus mit Blick auf die Copacabana, wo der 1907 geborene Baumeister noch Entwürfe zeichnete, als er schon über 100 Jahre alt war, hing ein Zettel mit der handschriftlichen Notiz: "Wir müssen die Welt verändern". Der bekennende Kommunist meinte das auch politisch. Dezidiert setzte Niemeyer sich etwa für den Kampf der Landlosen ein.

Sozialreformerisches Bauen aber war nicht sein Ding. Es ging nicht zusammen mit dem Erfinden nie gesehener, oft aufwendiger Formen, das ihm so wichtig war. Der Ausgleich sozialer Differenzen war für den Architekten nicht Sache seiner Zunft, sondern der Politik.

Einen Blick auf bessere Zeiten aber hinterließ Niemeyer in seinen Bauten, indem er ihre geraden und rechtwinkligen Elemente durch geschwungene, ungleich elegantere Linien in den Schatten stellte. Er bauschte und höhlte den Beton, so dass er optische Sprungschanzen für gewagtere Perspektiven abgab, für ästhetische Aufbrüche, für die Entwicklungsmöglichkeiten seines Landes.

Brasília - Träume von der Idealstadt

Den neuen Schwung zeigte er erstmals 1942 in Pampulha, einem Stadtteil von Belo Horizonte. Sein Tanzlokal dort schwingt aus in eine Kolonnade, die sich am See entlang schlängelt wie ein zu Boden gefallenes Band.

Für Brasília - dieses halbmisslungene Konstrukt aus einem öden Hochplateau, Träumen von der Idealstadt und unendlich viel Beton - entwarf er die immer noch großartigen Gebäude: den Nationalkongress mit Doppelhochhaus, Schale und Kuppel gleich einer abstrakten Skulptur. Die Präsidentenresidenz brachte er mit Pfeilern, die ausschwingen wie lose hängende Segel, ins Schweben. Die Kathedrale kleidete er in Glas, das er mit weißen bumerangförmigen Rippen taillierte. Und die fächerartige, geländerlose Treppe im Foyer des Außenministeriums ist eines der elegantesten Architekturdetails des 20. Jahrhunderts.

Selbst gigantischen Volumen konnte Niemeyer Weichheit und Leichtigkeit verleihen, als habe er Schwung geholt in der brasilianischen Aufbruchsstimmung der fünfziger Jahre, als neue Strömungen in Musik, Kunst und Film an einer moderneren und besseren Welt mitzuwirken glaubten.

Viele seiner Bauten überhöhen den Raum, in den sie hineingezeichnet sind. Sie flirten mit dem Horizont, den Linien der Hügel, den Küstenverläufen. "Was mich anzieht," so wurde er oft zitiert, "ist die freie und sinnliche Kurve, die ich in den Bergen meines Landes finde, im mäandernden Lauf seiner Flüsse, in den Wolken des Himmels, im Leib der geliebten Frau".

Wie ein Modeschöpfer

Er akzentuierte kühl-sinnliche Glasfronten und Betonschwünge mit gerundeten Sonnenschutzlelementen und Pfeilern so, wie Säume und Ausschnitte den Körper betonen. Viele Formen, die Niemeyer erfand, schienen deshalb in den oft ebenfalls weißen, geometrischen Volumen und Schnitte der Mode eines Courrèges wiederzukehren.

In Deutschland hat er in den fünfziger Jahren einen Wohnbau im Berliner Hansaviertel entworfen, mit dem er selbst nie zufrieden war, und für Potsdam ein Freizeitbad, das nicht gebaut wurde. In Frankreich dagegen glückten ihm der Pariser Sitz der Kommunistischen Partei wie das Kulturzentrum in Le Havre und in Italien das Verlagshaus Mondadori in Mailand.

Besonders spektakulär aber geriet 1996 das Niterói Museum für Zeitgenössische Kunst bei Rio de Janeiro. Es gleicht einem Ufo, das über auf einem Felsvorsprung am Meer gelandet ist. Besucher, die sich über die rote, sanft gewundene Rampe nähern, sollen so versunken sein in den Anblick und in die Ausblicke auf den Zuckerhut und die Bucht von Rio, dass sie vergessen, auch die Exponate des Hauses zu besichtigen.

Gerade der exotische Anblick seiner Bauten aber brachte Niemeyer auch Kritik ein. Extravaganz sei ihm wichtiger als die Funktion der Gebäude, hieß es. Max Bill etwa hielt ihm früh "antisoziale Vergeudung" vor. Zweifellos sind seine Bauten kapriziös, keine dienenden, stillen, dem Gebrauch und der Umgebung unterworfenen Mauerblümchen. Auch schert sich, was der Architekturkritiker Niklas Maak als "tropisch erhitzte Moderne" bezeichnete, nicht um Energieeffizienz.

Trotzdem ist es, als habe er die Linien der Moderne eines Gropius oder Le Corbusier aufgenommen, lose zum Band geschlungen, in seine Kurven hinein einige der anmutigsten und aufregendsten Bauten des 20. Jahrhunderts gesetzt und über allen neokonstruktiven oder postmodernen Schnickschnack hinweg einen Bogen gespannt zu den neofuturistischen, biomorphen Entwürfen unserer Tage.

Und lange schien es, auch Niemeyer sei - wie seine Architektur - ewig jung. "Das Leben ist ein Hauch", hat er immer wieder gesagt. In dem gleichnamigen brasilianischen Dokumentarfilm von 2007 hat ihm der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano das vielleicht schönste Kompliment gemacht: Die so unnachahmlich geschwungenen Berge von Rio seien, so Galeano, "von Gott gemacht an dem Tag, als er dachte, er sei Oscar Niemeyer".

Am Mittwoch verstarb der Architekt in einem Krankenhaus in Rio de Janeiro. Er wurde 104 Jahre alt.

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