Casting-Juror Henning Scherf "Ich habe gar keinen Bock auf Bohlen"

Germany's next Angela: Mit "Ich kann Kanzler!" produziert das ZDF eine neue Polit-Casting-Show. Im SPIEGEL-ONLINE-Interview spricht Juror und SPD-Urgestein Henning Scherf über die Nachwuchs-Merkels - und wie er sich fast in Jurykollegin Anke Engelke verknallt hätte.

SPIEGEL ONLINE: Herr Scherf, wie wird man Castingjuror?

Scherf: Bettina Schausten vom ZDF rief mich an und sagte, sie sei in Verlegenheit. Die hatten schon Hans-Dietrich Genscher als Juror angekündigt - und der meinte dann doch, er sei zu alt für so etwas.

SPIEGEL ONLINE: Fühlten Sie sich nicht pikiert, nur zweite Wahl zu sein?

Scherf: Überhaupt nicht. Und ich verstehe Genscher: Der ist ja über 80.

SPIEGEL ONLINE: Sie sind mit 70 Jahren ja noch jung.

Scherf: Das ist schon ein Unterschied. Mit 80 stellen sich ja manchmal Gebrechen ein, da spurt dann eventuell die Konzentration nicht mehr, die man für so eine Live-Sendung braucht. Und dann auch noch "Ich kann Kanzler!". Genscher hat damals Helmut Schmidt gestürzt. Vermutlich wollte er das nicht noch mal begründen - zumal, wenn derzeit die ganze Republik Schmidt für den Superkanzler hält.

SPIEGEL ONLINE: Die Show ist aber nur ein reines Gag-Format, oder?

Scherf: Meine Freunde reagierten ähnlich, die sagten alle: Das wird Comedy, was willst Du denn da? Stimmt aber nicht. Politik wird ja oft richtig dämonisiert. Hier ist es anders. Das Format ist eine Informationssendung und zeigt junge Leute, die sich trauen, den schwierigsten Job der Republik zu übernehmen. Wir arbeiten gegen das Vorurteil an, dass junge Menschen mit Politik nichts anfangen können. Wenn überhaupt, ist das Werbung - aber nicht Unterhaltung.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie schon mal andere Castingshows gesehen?

Scherf: Nein, ich gucke nur Nachrichten und Fußball, ab und zu mal einen Film. Aber ich habe schauerliche Sachen gehört, vor allem seit meiner Zusage. Die Leute werfen mich jetzt ständig mit Dieter Bohlen in einen Topf.

SPIEGEL ONLINE: Kennen Sie Bohlen überhaupt?

Scherf: Nein. Und nach dem, was ich gehört habe, habe ich auch gar keinen Bock auf Bohlen.

SPIEGEL ONLINE: Was hat man Ihnen denn Schlimmes erzählt?

Scherf: Dass das so ein RTL-Typ ist, der die Leute reihenweise niedermacht. Bei uns hat es einmal Tränen gegeben, aber wir putzen niemanden herunter, kein Zuschauer kann sich bei uns an zerstörten Hoffnungen aufgeilen. Unsere Gesellschaft braucht Menschen, die Verantwortung übernehmen - keine Zyniker. Leute wie Bohlen sind Anti-Typen. Wir wollen junge Menschen motivieren.

SPIEGEL ONLINE: Und das ausgerechnet in einem Seniorensender - der durchschnittliche ZDF-Zuschauer gilt ja als recht betagt.

Scherf: Das weiß das ZDF auch. Um junge Zuschauer zu kriegen, hat der Sender ja zum Beispiel Anke Engelke als Jurorin engagiert.

SPIEGEL ONLINE: Neben Engelke und Ihnen sitzt Günther Jauch in der Jury. Wie tickt das Trio?

Scherf: Wir haben keine Regeln, jeder lässt seinem Temperament freien Lauf. Jauch ist sehr spontan, redet Klartext, verzichtet auf Gesülze. Ich hatte von einem Fernsehprofi mehr Schauspielerei erwartet. Der ist ein bisschen unser Vorarbeiter. Anke hat den Mumm, die Kandidaten sehr persönlich zu befragen, warum sie sich bewerben, was sie wirklich wollen. Die ist sehr sympathisch: aufrecht, intelligent, keine Zynikerin. Und sie hat sehr viel Charme. Die brachte ihr Baby zur Kandidatenvorauswahl mit und wenn sie stillen musste, haben wir unterbrochen. Wunderbar! Wäre ich nicht so alt, ich hätte mich glatt verknallt.

SPIEGEL ONLINE: Und was haben Sie in der Jury gemacht, außer Frau Engelke anzuhimmeln?

Scherf: Ich weiß am ehesten, wie Politik läuft - und bin Jurist. Also habe ich Wissensfragen gestellt - bei denen manche gescheitert sind.

SPIEGEL ONLINE: Woran denn?

Scherf: Wenn eine junge Anwältin, die seit Jahren praktiziert, nicht weiß, was ein konstruktives Misstrauensvotum ist…

SPIEGEL ONLINE: …ist das peinlich.

Scherf: Ja, sehr.

SPIEGEL ONLINE: Was haben Sie in diesem Moment gedacht?

Scherf: Tja, da hat sich jemand auf die Show eingelassen - aber nicht auf Politik. Ich habe auch mehrfach gefragt: Sie wollen Kanzler werden? Nennen Sie mir mal ihre Vorgänger! Das konnten nur wenige. Adenauer und Merkel klappte noch, Schröder auch, Kohl war schon kritisch. Kiesinger und Erhard wusste fast niemand, viele kannten auch Willy Brandt und Helmut Schmidt nicht.

"Meine Frau meint sogar, ich sei ein Populist"

SPIEGEL ONLINE: Hat sie das schockiert?

Scherf: Zumindest habe ich gelernt, wie fix junge Leute sagen: Das war ja früher. Ich habe auch nach dem Hartz-IV-Satz gefragt. Drei oder vier Kandidaten haben eine annähernd richtige Zahl genannt, die anderen waren völlig überfordert.

SPIEGEL ONLINE: Das muss Sie als Sozialdemokrat besonders verärgert haben.

Scherf: Allerdings. Alle reden von der Spaltung der Gesellschaft, von neuer Armut - aber keiner weiß, was das wirklich heißt. Ein Kandidat von Kanzlerformat muss doch wissen, wie die Armen sich quälen!

SPIEGEL ONLINE: Sie haben bei der Vorauswahl zwei Tage mit 40 Kandidaten verbracht. Mal abgesehen von den lamentablen Wissenslücken: Was charakterisiert den Polit-Nachwuchs?

Scherf: Die wilden Debatten der 68er prägen bis heute unser Bild von dem, was ein politisch engagierter junger Mensch ist. Das ist aber passé. Wir hatten keine ideologischen Programmatiker vor uns, sondern Leute mit Projekterfahrung. Erstaunlich viele sind außerdem Selbstständige. Die suchen sich ihren Platz so früh wie möglich.

SPIEGEL ONLINE: Früh seinen Platz suchen, aber die Kanzler nicht kennen und auch nicht den Hartz-IV-Satz - klingt nach egoistischen Pragmatikern mit Tunnelblick.

Scherf: Das würde einen falschen Eindruck vermitteln. Ich finde es sehr vertrauenerweckend, wenn sich jemand um ein Integrationscafé oder einen Jugendclub im Osten kümmert. Der hört vielleicht nicht alle Bundestagsdebatten oder liest alle Leitartikel, macht aber wichtige Fingerübungen an der Basis. Der ist mir lieber, als jemand, der einen Katalog mit Demos vorlegt. Die 68er skandierten "Hoch die internationale Solidarität!", kannten aber keinen Türken. Die heutige Generation kennt jede Menge türkischer Mitschüler und Nachbarn - und erreicht die auch. Das ist überzeugender als eine Formel zu brüllen, die wenig mehr war als die Abgrenzung gegenüber einer nationalistischen, bürgerlichen Elterngeneration.

SPIEGEL ONLINE: Anke Engelke schätzt, dass wir von den 40 Kandidaten zehn Prozent auf Wahlplakaten wiedersehen werden.

Scherf: Also nur vier? Nein, ich denke ein gutes Dutzend von denen hat nicht nur das Talent, sondern ist bereits auf der Spur.

SPIEGEL ONLINE: Aber ein Nachwuchspolitiker ruiniert doch seinen Ruf, wenn er im Casting-Zirkus auftritt.

Scherf: Wenn er als Comedian kommt, ja. Wenn er aber mit Leidenschaft und Überzeugungskraft antritt, ist das nicht anrüchig, sondern eine Chance, sich mit einem Riesenmedium vertraut zu machen - und nicht einfach zu einer Schauspielerin zu rennen, die einem das Reden beibringen soll. Das machen ja manche Gewerkschafter. Die klingen alle gleich und man denkt: Oh Gott, jetzt kommt diese Platte. Nein, bei uns probieren die Leute ihre Art zu reden aus, testen, ob sie andere erreichen. Die sechs Finalisten fand ich jedenfalls richtig stark. Ich hoffe, die Show verschafft ihnen Rückenwind, auch falls sie sich mal um Mandate bemühen.

SPIEGEL ONLINE: Was macht eigentlich einen guten Politiker aus?

Scherf: Max Weber sagte: "Politik ist die Kunst, dicke Bretter zu bohren". Das Bild stimmt.

SPIEGEL ONLINE: Und ist doch nur ein Bild. Werden Sie mal konkret.

Scherf: Ich muss nicht alles selbst können, sondern wissen, wen ich um Rat frage. Zweitens: Ich muss Entscheidungen so verkaufen können, dass ich mehrheitsfähig bleibe. Gegen den Rest der Welt geht's nicht. Und drittens: Es gibt in unserer Demokratie ein Recht auf Rechtfertigung. Ich muss also Entscheidungen so begründen können, dass die Öffentlichkeit sie versteht und akzeptiert. Als Chef eines großen Unternehmens habe ich es da vergleichsweise einfach: Die Player sind übersichtlich und die Instrumente, mit denen ich sie überzeugen kann, ebenso.

SPIEGEL ONLINE: Ihr Jurykollege Jauch sagt, die klassische Ochsentour durch Gremien schrecke junge Leute ab - so ein Show-Format wecke dagegen Begeisterung für Politik. Hat er mit seiner Kritik Recht?

Scherf: Ja und nein. Das direkte Element in so einer Castingshow ist natürlich enorm sexy, Parteitage oder Kreistagssitzungen sind es selten. Aber selbst als Regierungschef sind sie ja nicht der strahlende Recht- und Machthaber, sondern schlagen sich mit unendlich vielen Abstimmungs- und Machtzirkeln herum. Wer in die Politik will, muss wissen: Das geht nur in der verfassten Struktur der parlamentarischen Demokratie.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben mal gesagt, eine der größten Schwächen der SPD sei, dass sie zu wenig Nachwuchs habe, den sie auch noch ungenügend fördere. Muss die SPD demnächst auch Castings veranstalten?

Scherf: Ich kann mir das gut vorstellen. In Bremen haben wir gute Erfahrungen mit Quereinsteigern gemacht. Warum nicht Foren schaffen, in denen sich der Nachwuchs ausprobiert, statt ihm dicke Parteiprogramme zu übergeben? Außerdem: Ein Casting ist eine Art öffentlicher Entscheidungsfindung, schafft also Anteilnahme. Eine Partei würde sich nicht fertig nach außen hin präsentieren, sondern an einer Suche teilhaben lassen. Greenpeace zum Beispiel könnte auch davon lernen. Das ist ein closed shop, die lassen sich in ihre Willenbildungsprozesse nicht reingucken.

SPIEGEL ONLINE: Günther Jauch sagte auch, jungen Leuten sei Sachpolitik zu kompliziert, sie seien mehr an Personen interessiert. Verzerrt die Personalisierung in so einer Show nicht das Bild davon, wie deutsche Politik läuft?

Scherf: Ja, die Gefahr besteht.

SPIEGEL ONLINE: Und dennoch verteidigen Sie die Show. Vielleicht weil Sie selbst einen sehr volksnahen Politikstil gepflegt haben? Sie galten ja als "Oma-Knutscher".

Scherf: Meine Frau meint sogar, ich sei ein Populist.

SPIEGEL ONLINE: Sagt Sie das mit einem Augenzwinkern?

Scherf: Nein, völlig ohne. Sie findet, ich sei süchtig nach Anerkennung.

SPIEGEL ONLINE: Hat Sie recht?

Scherf: Gut möglich. Wenn der Frust früher in Gremiensitzungen zu groß wurde, bin ich auf den Marktplatz rausgerannt und habe mit den Leuten geredet.

SPIEGEL ONLINE: Um ihnen zuzuhören - oder um in der Menge zu baden?

Scherf: Um zu entspannen und mir Motivation zu holen. In vielen Sitzungen wiederholen sich ja die Argumente. Und dann wird da gequalmt und gesoffen, die Luft ist mies. Eine Marktfrau, die mich anstrahlt, konnte mich dann schon bestärken. Das hat sicher etwas Populistisches.

SPIEGEL ONLINE: Befriedigen Sie mit der Show Ihre Sucht?

Scherf: Kann sein. Sonst hätte ich wohl zum ZDF gesagt: Fasst Euch mal an die Füße.

SPIEGEL ONLINE: Also hätten Sie sich als junger Mann auch selbst bei so einem Politiker-Casting beworben?

Scherf: Als ich in den Fünfzigern zur Schule ging, hatten wir nicht mal einen Fernseher. Aber als Schüler war ich mal bei Radio Bremen zum Tag der Offenen Tür. Als das rote Lämpchen im Studio anging, dachte ich: Da hört jetzt die ganze Welt zu. Das hat mich richtig angemacht. Ich vermute also: Ja.

Das Interview führte Thorsten Dörting


"Ich kann Kanzler!", Vorausscheidung (Aufzeichnung) am Donnerstag im ZDF, 21 Uhr; Live-Finale am Freitag, 21.15 Uhr

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