
Centre Pompidou in Metz Meisterwerke in der Schlumpf-Hütte
Eine weiße Wolke, ein geblähtes Segel oder ein ondulierendes Überzelt? Der Bau mit dem geschwungenen Dach, nur wenige hundert Meter vom klassizistischen Bahnhof von Metz entfernt, fordert zu Vergleichen und Deutungen heraus. Mit seiner 77 Meter hohen Spitze könnte das Centre Pompidou-Metz (CPM) auch ein Ufo sein, das hier einen Landeplatz gefunden hat - Spötter beschreiben die Form gar als "Schlumpf-Hütte".
Wie man es auch nennen mag - ohne Zweifel wird die Konstruktion mit dem Glasfaser- und Teflongewebe von 8000 Quadratmetern, das sich über ein filigranes Gitterwerk aus Biegeholz stülpt, zum neuen Wahrzeichen von Lothringens Metropole: Architektonischer Anziehungspunkt und Signal einer wirtschaftlichen Wende zugleich.
"Chinesischer Strohhut", nennt Architekt Shigeru Ban das Dach, das er mit seinem französischen Kollegen Jean de Gastines konzipierte. Den Anstoß zu der komplizierten Struktur gab eine traditionelle Kopfbedeckung aus Bambus und Ölpapier, mit dem sich Asiens Bauern bei der Feldarbeit gegen die Unbillen des Wetters schützen - der Japaner fand sie ausgerechnet beim Spaziergang über einen Pariser Flohmarkt.
Am Dienstag eröffnete der französische Staatschef Nicolas Sarkozy nach drei Jahren Bauzeit das anspruchsvoll entworfene Gebäude, das aus drei Etagen, jeweils um 45 Grad gedrehter, übereinander liegender Kästen besteht und 70 Millionen Euro kostete.
Die Filiale des Pariser Centre Pompidou wird damit zur ersten in die Provinz ausgelagerten Nationalen Kulturstätte - im nordfranzösischen Lens entsteht derzeit ein Ableger des Louvre. Das Konzept hinter den Filialen: Im zentralistisch ausgerichteten Frankreich soll Kultur auch fern der Hauptstadt für breite Zuschauerschichten zugänglich gemacht werden.
Zum Auftakt eine Mega-Schau
Dazu bietet das Centre Pompidou-Metz unter dem Balkengewölbe rund 5000 Quadratmeter Ausstellungsfläche; im Erdgeschoss schafft ein Raum von den Ausmaßen einer Kathedrale die Gelegenheit, auch Werke von außergewöhnlicher Größe auf zu hängen. Ergänzt wird das Gebäude, das nach Außen in Gärten und einen leicht ansteigenden Vorplatz übergeht, durch ein Auditorium, das als Kino oder Theater genutzt werden kann, ein Studio für Veranstaltungen mit fast 200 Plätzen und natürlich Restaurant, Café und Museums-Shop: Das Centre Pompidou soll als touristischer Anziehungspunkt dienen und Teil einer urbanen Erneuerung werden.
Das sollte funktionieren: Denn die Niederlassung in Metz hat Zugriff auf den schier unergründlichen Fundus des Pariser Mutterhauses; der Bau funktioniert nicht als Museum - mit Sammlungen, Ankäufen und schwerfälliger Logistik - sondern als Plattform und modulare Bühne für verschiedenste Kunst- und Ausstellungsformate, sagt CPM-Direktor Laurent Le Bon. "Unser Ziel ist es, eine eigene Geschichte zu schaffen, im Herzen einer Region an der Kreuzung von Belgien, Luxemburg und Deutschland. Natürlich wird es Austausch mit dem Centre Pompidou-Paris geben, aber wir werden nicht einfach Ausstellungen zwischen Metz und der Hauptstadt hinundherschieben."
Zum Auftakt bietet Metz freilich eine Mega-Schau, die nicht nur einen Besucher-Rekord verspricht, sondern auch das Pariser Centre Pompidou auszeichnen würde. Unter dem Titel "Chefs-d'oeuvre?" ("Meisterwerke?") hat Le Bon, der seit Erfolgsausstellungen wie "Dada" (Paris) oder "Jeff Koons" (Versailles) als Star-Kurator gefeiert wird, einen Überblick von 780 Meisterwerken zusammengebracht: Neben Werken aus dem Centre in Paris auch Leihgaben aus dem Louvre, dem Musée d'Orsay oder dem New Yorker MoMA, sowie Werke aus dem Musée du Quai Branly und der Schweizer Stiftung Beyeler.
Es ist eine didaktische Auswahl, die der Frage nachgeht, was ein Meisterwerk ausmacht. Angefangen mit der Etymologie des Begriffes hat Le Bon dafür verblüffende Gegenüberstellungen inszeniert: Ein Matisse neben einer Elfenbein-Schmuckschatulle aus dem Mittelalter, eine australische Buschtrommel neben dem Spazierstock von Balzac - eine Chronologie, die den Übergang von der "Kunstfertigkeit des Handwerks zum künstlerischen Ausdruck eines schöpferischen Individuums" vorführt; sie endet mit Filmausschnitten von René Clair neben einem Mobile von Calder und großflächigen abstrakten Motiven von Miró.
Picasso zieht um nach Metz
In der Etage darüber weitet sich die Schau dann zur wahrhaft enzyklopädischen Sammlung - auf 85 Meter Länge wird die gesamte Prominenz der Moderne mit emblematischen Glanzstücken versammelt: Dubuffet, Giacometti, Kandinsky, Picasso, Man Ray, Malewitsch, Chagall, César oder Louise Bourgeois. Und in bester Tradition der multidisziplinären Mischung werden die Stücke durch Plakate, Bücher, Design, Videos und Filmauszüge ergänzt - Méliès, Hitchcock, Tarantino.
Insgesamt bietet Le Bon einen atemberaubenden Querschnitt durch die moderne Kunst. Vervollständigt wird er durch die erste Retrospektive der Geschichte französischer Ausstellungsorte seit 1937. Der einzige Wermutstropfen: Der Überfluss der Exponate, etwa in der Großen Halle im Erdgeschoss, verstellt den Blick auf die architektonische Großzügigkeit; nur in der zweiten Etage blieb neben den Kunstwerken auch die Sichtachse auf das städtische Panorama erhalten.
Für die nächsten drei Jahre seiner Amtsführung hat Le Bon, der mit einer witzigen Werbekampagne ("Picasso: Ich ziehe um nach Metz") auf das neue Zentrum aufmerksam macht, bereits 15 weitere Projekte im Visier, im raschen Wechsel von vier bis sechs Ausstellungen jährlich. Der CPM-Chef hofft auf einen wirtschaftlichen Anschub für die Hauptstadt Lothringens, die einst das Herz einer Industrieregion war. "Metz hat keine Hochöfen in der Stadtmitte, sondern eine Kathedrale", trommelt Le Bon, "Metz ist eine grüne Metropole."
Für das erste Jahr erhofft der rührige Direktor des Centre Pompidou 200.000 Besucher. Das sollte angesichts des fulminanten Ausstellungsauftakts gelingen. Und dann bleibt neben den Meisterwerken unter dem transparenten Dach auch die Architektur des neuen Baus ein Anziehungspunkt, der die Reise nach Lothringen lohnt: Auch der "chinesische Hut" ist ein Meisterwerk.
Centre Pompidou-Metz, "Chefs-d'Ouevre?", bis zum 25.Oktober. www.centrepompidou-metz.fr