Charlotte Roche Schneller Vorlauf
Klar, normalerweise sind Fernseh-Interviews für jeden halbwegs ausgeschlafenen Popstar ein Klacks: Ein paar nette, vorher abgesprochene Fragen, ein paar mit strahlendem Lächeln dargebotene Null-Sätze, dankeschön, das war's. Was aber muss man in einer TV-Sendung bieten, deren Macher nichts sagende Antworten schon mal in dreifacher Geschwindigkeit abspielen und bei den Mickymaustönen den Schriftzug einblenden: "Scheißlangweiliges Gelaber"?
Der Brite Robbie Williams löste die Aufgabe mit mannhafter Chuzpe indem er schon die Begrüßung der Moderatorin von "Fast Forward" einfach beantwortete mit der Frage: "Können wir bumsen?"
Es waren Überraschungen wie diese, aber auch ans Publikum gerichtete Abschiedslosungen wie "Und eins noch: Macht unbedingt was mit eurer Frisur!", die Charlotte Roche, 23, im vergangenen Jahr die Nominierung für den Grimme-Preis, die wichtigste Auszeichnung der deutschen Fernsehwelt, eingetragen haben, für ihre, wie es in der Begründung der Grimme-Leute hieß, "kompetent eigenwillige Moderation".
In diesem Jahr ist Charlotte Roche nicht für den Grimme-Preis nominiert. An der Kompetenz und der Eigenwilligkeit ihrer Moderationen kann es nicht liegen, wie ein paar Beispiele aus den "Fast Forward"-Sendungen der letzten Wochen belegen: "Was hab ich heut für eine Themendichte", sagte sie da einmal, "da fliegt einem das Amalgam um die Ohren!" Musikvideos kündigt sie mal an als "den ersten Song dieser Band, der mir wirklich das Herz zerschrumpelt hat", oder, bevor ein paar gottesfürchtige Metal-Rocker mit einem Heidenlärm loslegen: "Die sind Christen, aber das ändert nichts daran die Band will euer Geld, um sich zwölftürige Luxuslimousinen zu kaufen."
Eine andere, ganze Ein-Stunden-Sendung lang tanzte Charlotte Roche, angetan mit einem abgeschabten rosafarbenen Jeansanzug, in wildem Schüttelkrampf in der U-Bahn, am Kiosk und mitten auf dem Bürgersteig zur Rush hour für ein Experiment namens "Headbangen in der Öffentlichkeit". Fast alle Passanten guckten entsetzt und flüchteten, die Moderatorin aber befand: "Die Leute haben tatsächlich auf nichts anderes gewartet als auf einen kleinen, gut angezogenen Gnom, der ihnen etwas vorbängt."
Charlotte Roche, die jeden Werktag um 21.05 Uhr im Musiksender Viva die Sendung "Fast Forward" präsentiert, ist eine Ausnahmeerscheinung im kleinen deutschen Fernsehkosmos. Ihre Schlagfertigkeit, ihre Lebendigkeit, ihr Sinn für ulkiges Chaos und ihr Charme sind ihr wie man so sagt: natürliches Kapital.
Freche, schlaue Vorzeigefrau
Viele haben das inzwischen bemerkt. Harald Schmidt hat sie bislang fünfmal in seine Show geladen. Die Musikzeitschrift "Spex" hob sie ebenso aufs Cover wie "Emma". Für Alice Schwarzer ist sie die freche, schlaue Vorzeigefrau der heutigen Mädchengeneration. Der "Stern" lobt ihre Show als "die intelligenteste im deutschen Musik-TV". Warum also hat's mit Grimme dieses Jahr nicht geklappt?
"Ein paar Minuten lang war ich schon traurig, als wir bei den Nominierungen nicht dabei waren", sagt Charlotte Roche mit ihrer oft leicht verquietschten Schmirgelstimme, und dann zuckt sie mit den Achseln: "Vermutlich haben die sich das überlegt. Schließlich stand letztes Jahr in manchen Zeitungen: ,Eine Viva-Moderatorin? Das ist ja unter aller Sau. Was ist bloß aus diesem seriösen Preis geworden?'"
Vermutlich ist die Wahrheit ein bisschen komplizierter. Denn seit letztem Sommer ist Charlotte Roche nicht mehr nur die freche, lustige Kult-Tante von Viva, sondern auch die Protagonistin einer Tragödie. Damals wollte sie in London ihren ein paar Jahre älteren Freund Eric Pfeil heiraten. Charlottes Mutter machte sich mit ihren drei Söhnen im Auto auf den Weg zur Kanalfähre, auf einer belgischen Autobahn schleuderte ein Reisebus von der Gegenfahrbahn in den Wagen. Die drei jüngeren Brüder von Charlotte Roche starben, "Bild" und "Bunte" berichteten in mal gnadenlosen, mal triefenden Krawallstorys. Gut möglich, dass diese Geschichte die Grimme-Nominierer in etwas verkniffener Pietät diesmal zaudern ließ.
Charlotte Roche wurde nach dem grauenhaften Unfall von Zeitungsreportern und TV-Teams verfolgt, und noch heute gerät sie in Rage, wenn sie über diese Zeit spricht: "Ich bin in meinem Leben noch nie so wütend gewesen", sagt sie. "Wie können Leute, die so einem Beruf nachgehen, abends mit gutem Gewissen nach Hause kommen, ihre Frau umarmen und die Kinder ins Bett bringen? So was muss keiner tun, da sollte er lieber betteln gehen."
Sie selber ging zwei Monate nach dem Unfall wieder auf Sendung. Ohne große Ankündigung, ohne Erklärung in eigener Sache, "weil man den Zuschauern einfach nicht klar machen kann, was geschehen ist, was mit mir los ist", wie sie sagt. "Wenn ich mir vorher vorgestellt hätte, dass mir so etwas passieren würde, hätte ich gesagt: Da geht gar nichts mehr, nie wieder. Aber als es passiert war, merkte ich: Es geht viel mehr, als man denkt. Man meint ja, da müsse dann die ganze Familie jahrelang auf dem Boden rumliegen und sich schreiend die Haare ausreißen. In Wirklichkeit geht alles weiter, und zwar ziemlich normal."
"Das Gesicht von Viva 2"
"Fast Forward", das weiß jeder Nutzer eines Kassettenrecorders, heißt: Schneller Vorlauf. An den Reaktionen der Zuschauer, die sie auf der Straße erkennen, bemerkt Charlotte Roche bis heute eine gewisse Unsicherheit: "Früher sagten sie: ,Hallo, ich mag dich und deine Sendung.' Jetzt sagen sie: ,Hallo, ich mag dich und deine Sendung und herzliches Beileid.' Aber das ist okay so."
Ihre Hochzeit will sie demnächst nachholen, ihre früher manchmal etwas nervige Vorliebe für Piercing-Schmuck hat sie zumindest vor der Kamera abgelegt, und ansonsten interviewt sie längst wieder, akribisch vorbereitet und mit schöner Nonchalance, Stars wie Mick Jagger und den Punk-Methusalem Campino. Selbst Britney Spears hatte sie kürzlich in die Sendung geladen: "Schade, dass sie dann doch nicht kam. Ich hätte gern das erste richtig böse Fertig-Mach-Interview mit ihr geführt zum Beispiel darüber, dass sie in ihrer Konzertshow in BH und Unterhose halbnackt auf einem Kinderbett rumturnt und so lolitamäßig mit einem riesigen Stoffhasen rummacht. Ich hätte sie also gefragt, warum sie so eine Show für schmierige alte Männer macht."
Charlotte Roche ist als Tochter britischer Eltern in Wimbledon geboren und mit insgesamt fünf Geschwistern in Mönchengladbach aufgewachsen, "alles in allem unter ziemlich hippiemäßigen Umständen". Sie wurde fast ohne Fernsehen großgezogen und ist dann eher zufällig (weil ihre Mutter sie angemeldet hatte) in ein Viva-Casting geraten. Sie war "das Gesicht von Viva 2", wie es in der Werbung ihres Senders hieß, als es Viva 2, den auf Studenten- und Independent-Pop spezialisierten Nebenkanal des Kölner Musiksenders, noch gab.
Von ihrem Arbeitgeber, dem Viva-Chef Dieter Gorny, sagt sie: "Es ist das Naivste auf der Welt, Gorny seinen Kapitalismus vorzuwerfen. Das ist, als würde man einem Bodybuilder seine Muskeln übel nehmen."
Viva ist an der Börse, Viva 2 brachte kein Geld und wurde gegen die massiven Proteste vieler Fans inzwischen durch einen ziemlich trostlosen Teeniepopkanal namens Viva Plus ersetzt. "Die Proteste haben mich gefreut denn sie bedeuten ja wohl, dass Viva 2 verdammt viel richtig gemacht haben muss", sagt Charlotte Roche. Sie selber besitzt keine Viva-Aktien: "Mir wurden zwar welche angeboten, aber ich habe lieber in eine Brustverkleinerung investiert."
Natürlich macht sie sich Gedanken über eine Karriere nach Viva. Als Teenager wollte sie Theaterschauspielerin werden, eine erste Filmrolle in einem Horrorwerk hat sie gespielt, weitere Filmangebote gibt es jede Menge: "Ich lese wie ein Berserker ein Drehbuch nach dem anderen und sage immer nein. Das sind meistens so überkonstruierte Geschichten. Oder einfach Rollen, die zu sehr durch mich inspiriert wurden: Die Filmfigur pustet die ganze Zeit nur ihren Pony hoch, wie ich es im Fernsehen auch mache."
Also schreibt sie erst mal ein Buch. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch kündigt ein Werk mit dem Titel "Die Bärte der Proleten" an. Was soll da drinstehen? "Das wird ein absurder Alltagsbericht aus meinem Leben", sagt Charlotte Roche. "Nicht das, was man sowieso im Fernsehen sieht, wenn ich jemanden interviewe, sondern eher die absurden Details, die mir bei diesen Treffen so auffallen."
Und wo bleibt die Botschaft? "Ich kriege eine Menge Mails von Mädchen, die in irgendeinem Kaff wie Hexen behandelt werden, nur weil ihre Entwicklung ein bisschen anders abläuft", berichtet Charlotte Roche. "Die sehen, dass es eine Bescheuerte wie ich ins Fernsehen geschafft hat und das macht ihnen Mut."