
Chris Dercons Rücktritt: Ende des "Kapitalistenhundes"
Abgang von Chris Dercon Gescheitert am bornierten Berlin
Chris Dercon ist nach gerade mal fünf Monaten als Intendant der Berliner Volksbühne gescheitert. Ist das ein Zeichen für die Provinzialität, Borniertheit und Ungeduld der hauptstädtischen Kulturwelt? Oder die logische Konsequenz daraus, dass hier ein Theaterleiter weder mit seiner Art der Kommunikation noch mit seinem Programm ein größeres Publikum überzeugen konnte? Unbedingt beides.
Grundsätzlich ist es wunderbar, wenn wilde Diskussionen in und um das deutschsprachige Theater geführt werden. Im Fall Dercon ist das passiert, allerdings in ziemlich erbärmlicher Weise. Von Anfang an war er in Berlin mit Widerwillen und offenem Hass konfrontiert, seit im April 2015 bekannt wurde, dass er als Nachfolger Frank Castorfs die Volksbühnenintendanz übernehmen sollte.
Viele Theaterfachleute und Volksbühnenfans hielten es von Beginn an für falsch, dass der aus Belgien stammende Dercon, der vorher in Rotterdam, München und London als Museumschef tätig war, Chef eines herausragenden deutschsprachigen Theaters werden sollte.
Statt seine Programmpläne wenigstens anzuhören oder vielleicht sogar die ersten Arbeiten an seinem Haus zu begutachten, wurde Dercon von vielen Medienmenschen und Lautsprechern des Berliner Kulturlebens gleich nach seiner Bestellung denunziert: als Vertreter einer globalen Kunstschickeria und als Mann der "Eventkultur", wie es der im Berliner Ensemble abgetretene Theaterchef Claus Peymann formulierte.

Chris Dercons Rücktritt: Ende des "Kapitalistenhundes"
Dercon wurde beschimpft als Agent der Gentrifizierung, der in Berlins Mitte einen Vergnügungsort für reiche Leute einrichten wolle. In einem offenen Brief verkündeten lange vor Dercons Antritt 180 Techniker und Künstler der alten Volksbühnenbesatzung, dass sie dem neuen Chef misstrauten, weil er die "Schleifung von Identität" und den "Ausverkauf der für uns geltenden künstlerischen Maßstäbe" betreiben werde. Irgendwann wurde Dercon dann auf einer Berliner Party mit Bier beschüttet und als "Kapitalistenhund" angepöbelt.
Agitation und ein Aprilscherz
Weitere Aktionen zwecks Entmutigung des neuen Intendanten folgten. Bevor Dercon im vergangenen November seine Intendanz eröffnen konnte, besetzte im September eine Gruppe von jüngeren Aktivisten das Theater und verkündete, sie wolle "die Volksbühne dem Volk zurückgeben".
Nach knapp einer Woche wurden die Besetzer von der Polizei aus dem Haus komplimentiert; einzelne von ihnen nutzten den Verweis auf den Polizeieinsatz bald, um in Mails und Briefen an Künstler und Intellektuelle, die Dercon in seinem Haus auftreten lassen wollte, gezielt gegen den Theaterleiter zu agitieren - zum Teil mit Erfolg, einige Engagements platzten.
Immer wieder gab es Protestaktionen gegen Dercon vor dem Theatergebäude. Zuletzt hatte sich die Zeitschrift "Monopol" mit einem eher billigen Aprilscherz am in Berlin beliebten Sport der Dercon-Verhöhnung beteiligt. Sie verbreitete am 1. April die Falschmeldung, Dercon werde Chef der nächsten Documenta in Kassel und kehre also ins Kunstmetier zurück, in dem er lange erfolgreich war.
Gescheitert aber ist der Theaterchef Dercon natürlich nicht bloß an den zahlreichen Gehässigkeiten, mit denen man ihm in Berlin begegnete, sondern auch mit dem Programm, das er auf der Bühne bot. Nach einem Vorspiel mit lustiger Tanzkunst des Choreografen Boris Charmatz und einer schmalen "Iphigenie"-Inszenierung auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof startete er im November mit einem katastrophal missglückten Eröffnungsspektakel im Haupthaus.

Volksbühnen-Intendant Chris Dercon bekam in Berlin kein Bein auf die Erde - wobei er oft genug auch sich selbst im Weg stand
Foto: Paul Zinken/ picture alliance / Paul Zinken/dVier Stunden lang gab es einen faden Mix aus angestaubten Beckett-Stücken und Performance-Aktionen des Künstlers Tino Sehgal zu bestaunen. Der vom Bühnenchef selbst als Reise zur "Essenz des Theaters" deklarierte Eröffnungsfehlschlag weckte selbst bei vorher zuversichtlichen Unterstützern Zweifel an Dercons Eignung für den Intendantenjob - zumal er in seinem Theater nur einen sehr lückenhaften Spielplan zustande brachte.
Trotz mehr als einjähriger Vorbereitungszeit in einem eigens eingerichteten Planungsbüro setzte Dercon nur wenige - zu wenige - Eigenproduktionen an, darunter immerhin zwei tolle, umstrittene Arbeiten, Susanne Kennedys "Women in Trouble" und Albert Serras "Liberté". Das demonstrative Desinteresse, das viele Berliner Premierenbesucher gegenüber diesen beiden Inszenierungen artikulierten, in dem sie Unmutsäußerungen in den Saal riefen und oder türschlagend das Theater verließen, offenbarten einen gruseligen Mangel an Weltoffenheit und Neugier.
Gescheitert ist Chris Dercon aber zuallererst an der Berliner Politik. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD), der für Dercons Berufung an oberster Stelle verantwortlich war und ihn 2015 stolz gemeinsam mit seinem damaligen Kulturstaatssekretär Tim Renner präsentierte, hat dem Belgier dann in der praktischen Arbeit so gut wie keine Unterstützung mehr zukommen lassen.
Seit Ende 2016 regiert Michael Müller gemeinsam mit der Partei Die Linke, der auch sein aktueller Kultursenator Klaus Lederer angehört. Lederer hatte Dercon schon vor seinem Amtsantritt als Senator eine "Fehlbesetzung" genannt; unter dem Dienstherrn Lederer musste Dercon alle Pläne, die er für die dauerhafte Bespielung des Flughafengeländes in Tempelhof verkündet hatte, aufgeben. Berlins Stadtpolitiker wollten ihm das nötige Geld nicht bewilligen.
Theater als Abspielstätten literarischer Texte
Für die deutschsprachige Theaterwelt ist Dercons Rücktritt ein Fanal. Denn viele, meist jüngere theaterbegeisterte Menschen in Deutschland, Österreich und der Schweiz verbanden mit Dercons Bestellung zum Volksbühnenchef die Hoffnung, der Mann könne eine Öffnung und Erneuerung der heimischen Theaterwelt bewirken.
Neben Matthias Lilienthal, der seit 2015 die Münchner Kammerspiele leitet, galt Dercon trotz aller Anfeindungen als Symbolfigur des Theaterfortschritts. Ähnlich wie Lilienthal plädiert Dercon - in seinem Fall leider in oft hochtrabenden Worten - für ein Theater, das sich als Ort des Crossovers zwischen verschiedenen Kunstgenres und als Stätte des politischen Diskurses versteht; für eine in tendenziell gelockerten Arbeitsstrukturen stattfindende Beschäftigung mit den Mitteln von Performance, Film, Musik und intellektueller Sozialarbeit.
In München und Berlin haben die beiden Intendanten mit solchen Ideen den Unmut vieler eher konservativer Menschen erregt, die unsere Theater im Großen und Ganzen als die Abspielstätten mehr oder weniger literarischer Texte erhalten wollen, die sie im Augenblick sind.
Matthias Lilienthal hat vor knapp zwei Wochen bekanntgegeben, dass er unter dem Druck der Münchner Stadtpolitik das Handtuch wirft und 2020 in den Kammerspielen aufhören wird. Nun hat auch Dercon kapituliert. Überraschend ist sein Rücktritt in der Mitte seiner ersten Spielzeit höchstens deshalb, weil Dercon noch vor wenigen Tagen beteuerte, er wolle seinen über fünf Jahre laufenden Vertrag auf jeden Fall erfüllen.
Weder in der Berliner Volksbühne noch in den Münchner Kammerspielen wird man jenes Theater wiederbeleben können, das dort vor dem Amtsantritt Lilienthals und Dercons gezeigt wurde. Es ist natürlich keineswegs ausgeschlossen, dass an beiden Orten unter neuen Theaterleiterinnen oder Theaterleitern neue, aufregende Bühnenkunst entsteht.
Wahrscheinlicher ist, dass man sich in beiden Häusern in künftigen Zeiten wehmütig an die wilden Zeiten unter Lilienthal und Dercon erinnern wird.