Poetikvorlesung von Christian Kracht "Ich hörte, wie er hinter mir die Hose öffnete"

Christian Kracht will sich im Hörsaal zu seiner literarischen Arbeit äußern, dabei hat der umstrittene Autor genau das immer vermieden. Doch nun spricht er. Und offenbart, als Junge sexuell missbraucht worden zu sein.
Der Schriftsteller Christian Kracht (2012)

Der Schriftsteller Christian Kracht (2012)

Foto: imago

Die Sätze, die alles ändern, gehören nicht Christian Kracht. Der Schweizer Autor hat noch keine zehn Minuten an der Goethe-Universität Frankfurt gesprochen, in seiner ersten Poetik-Vorlesung, da leiht er sich die Sätze von Walter Benjamin, dem deutschen Philosophen und undogmatischen Denker. Die Sätze lauten: "In den Gebieten, mit denen wir es zu tun haben, gibt es Erkenntnis nur blitzhaft. Ein Text ist der lang anhaltende Donner."

Im Publikum wird gelacht, weil es eben noch um den türkisfarbenen Porsche aus Krachts erstem Roman "Faserland" ging und der Autor kurz zuvor gestanden hat, diesen Wagen, zehn Jahre nach der Veröffentlichung, in "maulbeerfarben" umgeändert zu haben. Er habe Türkis einfach nicht mehr ertragen können. Das lachende Publikum ist kleiner als gedacht, es füllt nicht jeden der harten 1200 Klappholzstühle in dem größten Hörsaal der Uni aus.

Es wird gelacht über diese Sätze, denn noch ahnt niemand, was sie Kracht bedeuten. Diesem großen Schriftsteller, der nie wirklich als Mensch zu fassen war, über den spekuliert und geschimpft wurde: als der Deutschen verhasster Dandy-Boy wie geliebtes Sprachgenie. Der sich nur in seltenen Momenten öffentlich zu persönlichen Äußerungen hinreißen ließ, die aber nie als wahr gelten konnten, kamen sie doch immer noch von Kracht, dessen sture Ironie oftmals besser keinen Glauben zuließ.

Niemand also ahnt, dass ausgerechnet Christian Kracht gleich erzählen wird, wie er als zwölfjähriger Junge missbraucht wurde. Wie er das erst vor wenigen Monaten herausfand. Und dass er über seinen Peiniger eigentlich schon immer geschrieben hat:

"Ende letzten Jahres habe ich ganz zufällig erfahren, es war während der Geschehnisse um Harvey Weinstein, dass jener Keith Gleed, er hieß tatsächlich so, auf einem Internat in Kanada, der Lakefield College School, an die 30 Jungen missbraucht hatte. In diesem spartanischen Jungeninternat, dessen Motto 'Mens sana in corpore sano', also 'ein gesunder Geist in einem gesunden Körper', lautete, war ich ein untersetzter, vielleicht durchaus etwas verzogener Sonderling. Viel zu klein, schmächtig also, und aus der Schweiz ins ferne Kanada gekommen, mit aschblondem, weichem Haar und hoher Stimme, war mein Spitzname bald unter den anderen Jungen 'Heidi'. "*

Kracht hat bei seiner Begrüßung nichts angedeutet. Er ist an das Stehpult getreten, am Fuße des hohen Raums, vor sich die ansteigenden Stuhlreihen, das Gesicht braun, erste graue Haare in seinem vollen Bart, hat seinen grünen Parka mit der Kapuze nicht ausgezogen, stand da und hat sich in das Mikrofon geräuspert. Dann hat er "guten Abend" gesagt. Er hat sich gefreut, dass trotz seines "Knausgardesken Autorenfotos", neben dem als Credit seine Frau Frauke Finsterwalder steht und das bereits vor zwei Jahren zur Veröffentlichung seines letzten Romans "Die Toten" durch die Feuilletons geisterte, das ihn wild, wie kurz vor dem Wahnsinn zeigt, dass also trotz dieses Fotos so viele Zuhörer gekommen seien.

" Ich hatte nicht gelernt, mich dort in Kanada zu assimilieren, und war sehr bald dem aus heutiger Sicht sehr übertriebenen Straf- und Regelsystem unterworfen, dessen kryptofaschistische Bestandteile und Ausformungen Sie in meinem letzten Roman 'Die Toten' untersuchen können. Eine Strafe, die ich als besonders perfide empfand, bestand darin, dass man mit Handschellen an einen Stuhl gekettet wurde. Dieser und man selbst wurden dann auf der Ladefläche eines kanadischen Pick-up-Trucks mitten im Winterfrost Ontarios bei minus 20 Grad hinausgefahren, 15 Meilen weit weg von der Schule, in die Wildnis hinaus. Dort wurde man ausgeladen, deponiert. Und musste, wollte man nicht erfrieren, den Stuhl hinter sich herschleifend oder tragend zurück zum Internat laufen. "*

Kracht hat sich bei seiner Begrüßung entschuldigt, weil er seinen gesamten Vortrag ablesen müsse, spreche er doch sonst, man kenne das vielleicht aus den Interviews, "wie ein autistischer Säugling". Er hat gesagt, es grause ihm vor dieser Reihe, insgesamt drei öffentliche Vorlesungen an der Universität und eine ausverkaufte Abschlusslesung im Literaturhaus, denn "ich habe Angst, zu Ihnen zu sprechen" und "mich zu offenbaren". Er hat gestanden, dass er beim erneuten Lesen seiner Bücher zur Vorbereitung dieses Vortrags "Ohnmacht und Peinlichkeit" gespürt habe, wegen seiner vermeintlichen "Talentlosigkeit".

Auch da wird ein wenig gelacht. Kracht'sches Kokettieren?

" Ich sehe sie noch heute vor mir, diese lachenden jungen Männer, ihre weißen Zahnreihen, ihre sportlichen Körper, die Timberland-Stiefel, ihre grün und rot gestreiften Rugby-Hemden mit den hochgestellten weißen Krägen. Darüber die wattierte Daunenweste. Schatten davon finden sich bei der Beschreibung von Masahiko Amakasus Jugend in 'Die Toten' - Kracht hustet, dann noch einmal ins Mikrofon, Lachen -, in den menschenverachtenden Erniedrigungen des Erzählers durch seinen Freund Christopher in dem Roman '1979' und natürlich bei den jungen deutschen Recken Maximilian und Jonas im Film 'Finsterworld'. "*

Das Schlimmste ist die Ruhe, mit der Kracht von den Ungeheuerlichkeiten spricht. Sie hält den Raum umklammert. Ein Student steht auf, hebt entschuldigend die Hände, muss durch zur Toilette, keiner bewegt sich. Die Stuhlreihe bleibt sitzen, bis er drängelt, "wirklich muss", die Zuhörer aus dem Bann bricht und sie zum Aufstehen zwingt.

"Zurück zum Pastor. Sehen Sie, eben dieser, Keith Gleed, hatte mich damals in sein ansehnliches, kanadisches Holzhaus auf dem Campus geordert, ins Wohnzimmer, und mir, dem damals zwölfjährigen Knaben, bedeutet, ich solle nicht nur meine Hose und meine Unterhose, an deren Farbe ich mich heute nicht mehr erinnern kann, herunterziehen, sondern mich sozusagen ganz nackt ausziehen und mich dann mit dem Gesicht von ihm abgewandt über die Lehne seines Sofas drapieren.

Ich hörte, wie er hinter mir die Hose öffnete und seinen Gürtel durch die Schlaufe jener Hose zog. Und ich spürte, wie er mir dann sieben oder acht Schläge mit dem ledernen Gürtel auf Rücken und Hinterteil klatschen ließ. Ich sollte noch eine ganze Weile so gestriemt und schluchzend verharren und mich nicht umdrehen, so die Anweisung von Pastor Keith Gleed. Ich hörte ihn leise stöhnen, und ich muss heute annehmen, dass er sich hinter mir stehend, sein Schlagwerk und den schmächtigen, nackten Knaben vor sich gebeugt betrachtend, selbst befriedigt hatte. "*

Die Ruhe, mit der Kracht diese Sätze vorträgt. Ausgerechnet er. Angestarrt wird er. Wie muss das aussehen für ihn, all diese fremden Augen? Unpathetisch spricht er weiter, nur manchmal stockend.

" Lange Jahre, Jahrzehnte, 40 Jahre habe ich gedacht, ich hätte mir dieses Szenario eingebildet oder ausgedacht. Meine Eltern, denen ich damals weinend am Telefon davon erzählte, wollten oder konnten mir nicht glauben. Es hieß, ich hätte schon immer eine ausladende Phantasie gehabt, etwa als ich im Poesieunterricht an meiner Grundschule in der Schweiz Songtexte der Beatles als meine eigenen, selbstverfassten Gedichte ausgegeben hatte. "*

Er erzählt von dem "trüben Erinnerungstümpel", der ihn umgeben habe, bis er dann schließlich, durch einen Zufall im November 2017, in einem kanadischen Reportagemagazin einen Bericht las. Darin ging es um den englischen Thronfolger Prinz Andrew, mit dem Kracht gemeinsam das kanadische Internat besucht hatte, und der in einem feierlichen Akt dem "father Gleed" zu Ehren, der bereits 2009 verstorben war, ein Taufbecken einweihen sollte.

" Erst jetzt hatten sich einige, dann eine große Anzahl meiner damaligen Mitschüler gemeldet, um gegen die Schulleitung Anklage zu erheben vor dem kanadischen Gericht. Der Pastor habe sie damals missbraucht, zum Teil anal vergewaltigt, mit dem Gürtel geschlagen, zu Mundsex gezwungen und zum Teil vor ihnen masturbiert. Mindestens 30 Knaben habe er traktiert. 30.

Jahrzehnte habe man geschwiegen, nun aber, da die Erinnerung an ihn in steinerner Form eines wohlgefälligen, neogotischen Taufbeckens in der anglikanischen Kapelle errichtet werden soll, müsse man das Schweigen brechen.

Sie können sich vielleicht vorstellen, was diese späte, vor ein paar Monaten erst erlangte Erkenntnis, ich sei eben kein phantasievoller Lügner gewesen, mir bedeutet hat. "*

Wäre es nicht gelogen, das zu bejahen?

Es kann weder klar sein, was eine solche Erkenntnis in dem Menschen Christian Kracht hinterlässt, noch was sie für ihn als Autor und somit für die Interpretation seines Werkes bedeutet. Ebenjener Interpretation, der er sich seit Jahrzehnten beharrlich entzieht.

Vielleicht ist es auch so, dass diese Lesung mehr noch ein Lehrstück ist. Nicht wenige Zuhörer werden sich, seiner eindrücklichen, beklemmenden, geradezu grauenhaft distanzierten und damit umso zugänglicheren Schilderung zum Trotz, zumindest ein Mal gefragt haben: "Ist das wahr?" Kann man Kracht glauben? Oder wird er am Samstag, in der zweiten Vorlesung, etwas anderes erzählen, etwas, das all das aufhebt? Das man hätte kommen sehen müssen, auch wegen seines spröden, abgründigen und so wunderbaren Sinns für Humor?

Doch nichts an einer Missbrauchsgeschichte ist witzig. Und dann kommt Kracht zu seinem Werk, zuerst zu dem Buch "Ich werde hier sein im Sonnenschein wie im Schatten" aus dem Jahr 2008. Er erzählt, wie er "ebenjenen Pastor Keith Gleed" bereits vor zehn Jahren an zwei ihm wichtigen Stellen in den Roman eingebunden habe. Zum einen als Autor einer fiktiven Anthologie kanadischer Insekten, die auf dem Tisch einer Waldhütte liegt, an welcher der Erzähler, ein afrikanischer Soldat, vorbeireitet - "um später zu erfahren, man habe sich ihn herangezüchtet und mit falschen Erinnerungen gefüllt". Zum anderen als den konkreten Pastor, der den afrikanischen Helden im Kindesalter in eine Höhle bugsierte und sich "dann keuchend hinter ihm stehend selbst befriedigte".

" Erst jetzt, zehn Jahre nach Erscheinen des Romans, ist mir bewusst geworden, dass die blitzhafte Erkenntnis, von der Benjamin spricht, mit hinein schlägt in das forttosende, lang anhaltende Donnergrollen des Textes.

Ich habe lange darüber nachgedacht, was Pastor Keith Gleed angetrieben haben mag, Kinder, die ihm schutzbefohlen waren, zu missbrauchen. Es war wohl einerseits die Freude an der Ausübung von purer, unverfälschter Macht, sicher auch eine Obsession mit Ausformung der menschlichen Erniedrigung, und dann ein gewisser Ästhetizismus, bei dem das Sexuelle nicht unbedingt im Vordergrund stand. Eigenschaften und Empfindungen, so scheint es mir jetzt, die viele meiner Figuren teilen mögen. "*

Kracht wirkt nun wie losgelassen, noch immer ruhig. Doch atemlos entschlossen zählt er Figuren auf, all jene, auf die das zutreffen mag. Da ist der teilnahmslose, psychisch versehrte, autistische Erzähler von "Faserland". Oder aber der grausame Christopher, der gelangweilte, HIV-infizierte, todgeweihte Boyfriend des Erzählers in "1979". Oder der zum Teil widerwärtige, zynische, pompöse, aufgeblasene und vor allem schwache Erzähler aus "Imperium". Und auch der wirklich vollends psychopathische Masahiku Amakasu.

" Es teilen sich alle eine ausschweifende Unbarmherzigkeit. Eine mitleidslose Härte. Und es ist vielleicht diese unkommentierte Bevölkerung meines nun ein gutes Vierteljahrhundert andauernden Panoptikums mit derlei Gestalten, die mir den widersinnigen Vorwurf eingebracht haben, ich sei ein Faschist. "*

Er wird nun bald auch andere Vorwürfe aufgreifen, die ihm gemacht wurden. Etwa homophob zu sein. Zum ersten Mal verteidigt sich Christian Kracht. Wird wütend und beweist mit Textstellen, für wie absurd er diese oder jene Anschuldigung hält. Sagt, wie ihn das immer geärgert habe, dieses ewige Hinterfragen seiner Schüchternheit. "Als wäre es nicht möglich, ein Schriftsteller zu sein, der Angst davor hat, ein Schriftsteller zu sein." Und an diesem Abend wird er auch seinen Autoren huldigen. Darunter W. G. Sebald, Hubert Fichte, Fritz J. Raddatz, seinem Freund Eckhart Nickel, aber auch Alice Schwarzer und Christoph Schlingensief.

" Der Akt des Schreibens selbst, die Gewalt, die Erniedrigung, die Grausamkeit, der körperliche Ekel und die fetischisierte, oft verlagerte männliche Sexualität sind Topoi meiner Arbeit, deren ich mir erst jetzt bewusst werde, die aber sozusagen mit der ersten Zeile von 'Faserland' alles bestimmt haben. "*

Und so macht er zum Abschluss etwas, das "ich fast noch niemals gemacht habe, in fast 25 Jahren": Er liest aus "Faserland" und er nennt das den "verlorenen Klang einer lang untergegangenen Welt".

Kracht liest also, mit fast schon samtiger Stimme, mit Pausen, in denen er wirkt, als müsste er selbst tatsächlich noch einmal nachdenken, was er da als Twen geschrieben hat. Er liest eine ganz Weile, er liest so, dass es wirklich schön ist, dass man die rote Brause im Bier des Erzählers riecht - und vielleicht ein letztes Mal wirklich Teil dieser alten Welt ist. Er liest, bis es ein wenig weh tut und dann plötzlich alles Sinn macht. Er liest bis zu dem Satz: "Vielleicht ist die Schweiz ja eine Lösung für alles."

Es ist 19:20 Uhr. Und kein Mensch glaubt ihm.

Die nächste Poetik-Vorlesung des wahren Schriftstellers Christian Kracht ist am kommenden Samstag. Es könnte, nein, es sollte voll werden.


*Nachtrag: Die Wiedergabe der im Artikel enthaltenen Wortlautpassagen war dem SPIEGEL auf Betreiben von Christian Kracht durch einstweilige Verfügung des Landgerichts Frankfurt am Main (vorläufig) untersagt worden. Das Frankfurter Oberlandesgericht hat die Untersagung mit Urteil vom 18. April 2019 aufgehoben und damit bestätigt, dass die Verwendung der Zitate rechtmäßig war.

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