Christiansen-Nachfolge Habemus Anne

Als Anne Will zur Christansen-Nachfolgerin gekürt wurde, hielt man in Medien-Deutschland den Atem an. Die Hoffnung: Geht mit dieser Entscheidung die Christiansenisierung des TV-Journalismus zu Ende? Die Papstwahl war jedenfalls nichts dagegen, findet SPIEGEL ONLINE-Autor Reinhard Mohr.

Um 13.45 Uhr MEZ stieg weißer Rauch auf bei der Glaubenskongregation der ARD-Intendanten in Frankfurt am Main. Habemus Anne! lautete die frohe Botschaft. Die Papstwahl war nichts dagegen. Ach was, auch die Entscheidung über den UN-Generalsekretär und die Stoiber-Nachfolge verblassen gegenüber der historischen Frage: Wer wird im Herbst Sabine Christiansen, 49, beerben, die Queen Mum der deutschen Polit-Talkshow?

Schon das mediale Erdbeben nach der Absage von Günter Jauch ließ ahnen, dass es hier um etwas ganz Großes, geradezu Epochales geht: Wer, sag’ bloß, moderiert am Sonntagabend nach dem "Tatort" jene quotenträchtige Gesprächsrunde im Ersten, bei der es regelmäßig um Hartz IV, die dritte Stufe der Unternehmensteuerreform, den demografischen Wandel, Zigarettenrauch in Gaststätten und den Ladenschluss geht, kurz: um die wahren Abgründe des deutschen Seins?

Keine Frage: Die Christiansenisierung des deutschen Fernsehjournalismus ist schon so weit fortgeschritten, dass eine wöchentlich gesendete einstündige Talkshow im Mittelpunkt des nationalen Interesses steht. Wie gut, dass die deutschen Handballer schon am Sonntag Weltmeister geworden sind – heute wären sie ziemlich abgeschmiert.

Seit Sabine Christiansen ihre Talkshow moderierte – und wer von uns weiß eigentlich noch, wann sie damit angefangen hat? – haben sich stets zwei Fragen gestellt: Wie kommt es, dass eine politisch eher unbedarfte Journalistin diesen Job macht – und warum war sie dennoch erfolgreich? Warum also schalteten auch jene Zuschauer immer wieder ein, die ihre Sendung allzu oft nur unter schweren zerebralen Krämpfen ertrugen?

Christiansen als elektronisches Kaminfeuer

Alle Verrisse dieser Welt, darunter in Form ganzer Buchessays, änderten nichts an der Tatsache, dass Sonntag für Sonntag bis zu sechs Millionen Menschen Christiansens Polit-Konklave beiwohnten.

Auch wenn Protagonisten wie Guido Westerwelle und Gregor Gysi, die sich durch häufige Auftritte allein schon ihre persönliche Künstlergarderobe auf Lebenszeit verdient hätten, in ihren Antworten auf alle Fragen der Menschheit so vorhersagbar waren wie die übereinander geschlagenen Beine der Moderatorin – die Sendung wurde zu einem elektronischen Kaminfeuer der debattierenden Nation. Eine Mischung aus Lufthansa-Lounge ohne Knabberzeug und gut ausgeleuchteter Skihütte mit klatschbereitem Publikum.

Dass sie sich als "wahres Parlament" gebärde, kritisierten nicht wenige, die zuweilen sogar den Bundestag im Schatten der illustren Talkrunde sahen.

Natürlich ist der Hinweis auf die charakteristischen Umstände einer Mediengesellschaft trivial, in der die Meldung eines prominenten Moderatorenwechsels so wichtig scheint wie eine neue Eskalation im Nahostkonflikt. Dennoch lohnt ein Blick auf die Struktur des Fernsehsonntags, durch den das Gemüt der Nation auf besondere Weise geprägt ist. Nach dem langen freien Tag, der noch immer überwiegend der Entspannung und dem unbeschwerten Loslassen dient, markiert die Tagesschau um 20 Uhr das memento mori mundi: Geballt springt das Elend dieser Welt die Zuschauer an, dass es ein wahrer Graus ist beim gemütlichen Abendessen.

Sonntägliches Purgatorium

Gott sei Dank sublimiert der nachfolgende "Tatort" das Ganze wieder, in dem er es kriminalisiert, individualisiert und dramatisiert, das heißt, eine fassbare, melodramatische Geschichte erzählt, an deren Ende zuverlässig der Sieg über Wahnsinn und Verbrechen steht.

In die Nachwehen des derart gebändigten Schreckens platzt dann schon der flott geschnittene Talkshow-Trailer, der die üblichen Verdächtigen - Politiker, Wirtschaftsbosse, Gewerkschafter – vorstellt und ins Thema einführt.

Das schien jahrelang stets dasselbe: "Deutschland ein Jammermärchen" alias "Vor uns die Wand – wie geht es weiter?" Das dabei statistisch am häufigsten verwandte Wort waren die "steigenden Lohnnebenkosten". Sie konnten gar nicht oft genug beklagt werden. Nun, im konjunkturellen Aufschwung, das nur nebenbei, hört man nichts mehr davon.

Es scheint dieser mediale Dreisprung zu sein – Weltwahnsinn, Verbrechenswahnsinn und Talkshow-Wahnsinn –, der am Ende so beruhigend wirkt. Ein sonntägliches Purgatorium, dem man schließlich doch irgendwie gereinigt und geläutert entsteigt, um einer halbwegs geruhsamen Nacht entgegenzusehen.

Mindestmaß an Orientierung

Doch die therapeutische Wirkung beruht auch darauf, dass trotz aller offenkundigen Mängel das sonntägliche Talkshow-Ritual Teil eines Selbstgesprächs der Gesellschaft ist, in dem eben nicht nur Tatsachen und Meinungen, sondern auch Stimmungen zur Geltung kommen.

In unserer hoch differenzierten, viele sagen: geradezu atomisierten Gesellschaft ohne den sozialen und religiösen Zusammenhalt vergangener Zeiten, die vor lauter Kommunikation oft nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht, geht es auch um Selbstvergewisserung.

Wickerts großväterlicher Rat

Insofern sind selbst ärgerliche oder missglückte Talk-Runden über die RAF oder die "neuen Alten" immer noch besser als gar keine.

Und wer weiß, vielleicht wird Anne Will, die neue Junge, ihre Fähigkeiten ja dazu einsetzen, dass das sonntägliche Selbstgespräch der Gesellschaft wirklich eines wird – ein demokratisches Streitgespräch.

"Sie ist direkt, naiv und lernfähig" – derart großväterlich anmaßend hat Ulrich Wickert sie vor fünf Jahren charakterisiert, als Anne Will die "Tagesthemen" übernahm.

Wer sie auch nur einmal getroffen hat weiß: "Naiv" kann man streichen.

Der Rest macht Hoffnung.

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