"Cicero"-Urteil Verfassungsgericht stärkt Pressefreiheit

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Die Razzia gegen die "Cicero"-Redaktion im September 2005 verstieß gegen das Grundgesetz. Das Urteil stärkt den Schutz von Informanten und die Arbeit von investigativen Journalisten.

Karlsruhe - Für eine Redaktionsdurchsuchung reiche die bloße Veröffentlichung eines Dienstgeheimnisses in der Presse nicht aus, heißt es in dem Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts. "Durchsuchungen und Beschlagnahmen in einem Ermittlungsverfahren gegen Presseangehörige sind verfassungsrechtlich unzulässig, wenn sie ausschließlich oder vorwiegend dem Zweck dienen, die Person eines Informanten zu ermitteln", sagte Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier.

Ein einfacher Verdacht der Beihilfe zum Geheimnisverrat genüge für eine solche Razzia nicht. Vielmehr müssten "spezifische tatsächliche Anhaltspunkte" dafür vorliegen, dass eine zur Geheimhaltung verpflichtete Person - ein "Geheimnisträger" - die Veröffentlichung bezweckt hat. Solche konkreten Hinweise hätten im Fall "Cicero" nicht vorgelegen.

Mit der Entscheidung hatte die Verfassungsbeschwerde des Chefredakteurs von "Cicero", Wolfram Weimer, Erfolg. Weimer zeigte sich erleichtert über das Karlsruher Urteil: "Das Bundesverfassungsgericht hat die Pressefreiheit in Deutschland verteidigt und gestärkt", sagte er. Das Urteil schütze Informanten und investigative Journalisten. Der Richterspruch mache die Arbeit von Journalisten "rechtssicher", sagte der Chefredakteur.

Auch der Journalist Hans Leyendecker begrüßte für das Netzwerk Recherche das Urteil. Für den typischen Fall der Veröffentlichung vertraulicher Unterlagen bestehe nun Schutz vor Redaktionsdurchsuchungen. Er rechne damit, dass nun auch Ermittlungen gegen drei Journalisten des "Stern" und einen Journalisten der "Financial Times Deutschland" nicht weiter betrieben würden.

Bestätigung des "SPIEGEL-Urteils"

Das monatlich erscheinende Politik-Magazin hatte im April 2005 ausführlich aus einem Bericht des Bundeskriminalamts (BKA) zitiert, in dem es um den inzwischen getöteten islamistischen Terroristen Abu Mousab al Zarqawi ging. Der als "Verschlusssache gekennzeichnete Bericht hatte die niedrigste Geheimhaltungsstufe und war dem Magazin möglicherweise von einem BKA-Beamten zugespielt worden.

Nach der Veröffentlichung leitete die Staatsanwaltschaft Potsdam ein Ermittlungsverfahren gegen Chefredakteur Weimer und den Autor Bruno Schirra ein. Bei einer Redaktionsdurchsuchung am 12. September 2005 wurde die Festplatte eines Computers kopiert. Das Strafverfahren wurde später gegen die Zahlung von 1000 Euro eingestellt.

Der Durchsuchungsbeschluss war damit begründet worden, dass der Journalist durch Veröffentlichung des vertraulichen Materials Beihilfe zum Verrat von Dienstgeheimnissen geleistet habe. Bei der mündlichen Verhandlung am 22. November 2006 hatte die Bundesregierung die Durchsuchung gerechtfertigt. Es habe sich um keinen verfassungswidrigen Eingriff in die Pressefreiheit gehandelt, hatte Justiz-Staatssekretär Lutz Diwell erklärt. Diese finde bei der Beihilfe zu strafbaren Handlungen ihre Grenze. Journalisten hätten kein Privileg, das ihnen die Beihilfe zu strafbaren Taten erlaube.

Der Erste Senat betonte nun, Durchsuchungen von Redaktionen und Beschlagnahmen seien unzulässig, wenn sie ausschließlich oder vorwiegend dem Zweck dienten, den Informanten zu ermitteln. Damit bestätigte das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich eine zentrale Aussage seines "SPIEGEL-Urteils" von 1966.

Schon damals hatte das Verfassungsgericht der Staatsgewalt unmissverständlich die Grenzen aufgezeigt. Redaktionsdurchsuchungen seien unzulässig, wenn sie vor allem dazu dienten, einen mutmaßlichen Informanten aufzuspüren, betonten die Karlsruher Richter. Der SPIEGEL hatte im Oktober 1962 auf Grundlage streng geheimer Dokumente über die mangelhafte Abwehrbereitschaft der Bundeswehr berichtet. Danach waren die Redaktions- und Verlagsräume des Magazins wegen Verdachts des Landesverrats durchsucht worden. Der damalige Chefredakteur Rudolf Augstein und mehrere Redakteure wurden verhaftet. Augstein saß auf Betreiben des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Strauß (CSU) für mehr als drei Monate in Untersuchungshaft. Später wurden er und der Autor des Artikels, Conrad Ahlers, vom Vorwurf des Geheimnisverrats freigesprochen.

Aktenzeichen: Bundesverfassungsgericht 1 BvR 538/06

hoc/AFP/AP/ddp

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