Nachruf auf Claude Lanzmann Der Mann, der die Zeit besiegte

Claude Lanzmann
Foto: JOEL SAGET/ AFPWie verbringt Claude Lanzmann seinen Sommerurlaub? Es sollte ein leichtes Gespräch werden über Sonnenschein, Motorboote und Atlantikstrände, über Austern und Champagner. Ein Versuch, mit Claude Lanzmann einmal im Leben nicht über die Seelen und die Geister der Millionen während des apokalyptischen Zweiten Weltkriegs durch die Nazis ermordeten Juden zu sprechen, die ihn seit 1974 auf Schritt und Tritt verfolgten - eben dem Jahr, in welchem er seine am Ende zwölfjährigen Dreharbeiten zu seinem Film "Shoah" begann.
Ich folgte seiner Einladung nach Cap Ferret im Juni 2010, um im Südwesten Frankreichs gemeinsam mit Lanzmann zwei Wochen Ferien zu verbringen. Ich sollte bei ihm im Haus wohnen. Er würde kochen. Er schlug kurz vor meiner Abreise gar vor, dass wir aus unserer Gesprächsserie gleich ein ganzes Buch machen sollten, und wir einigten uns in wenigen Minuten auf einen Titel: "Qu'est-ce que' la mémoire?" ("Was ist Erinnerung?"). Eine Reise in die Welt der Dekonstruktion dessen, was wir Erinnerung nennen, war mir von Claude Lanzmann auf dem Silbertablett serviert worden. Und doch kam alles ganz anders als geplant.
Der Titel des geplanten Gesprächsbandes, dem auch all die langen Gespräche eingegliedert werden sollten, die wir in den Jahren zuvor geführt hatten, bezog sich natürlich auf Jean-Paul Sartres grundlegendes Werk "Was ist Literatur?" (im Französischen: "Qu'est-ce que' la littérature?"). Claude Lanzmann war im Wortsinne Mitstreiter von Jean-Paul Sartre, mit dem er nicht nur gemeinsam die literarisch-politische Zeitschrift "Les Temps Modernes" ("Die moderne Zeit") herausgab.
Sartre und Lanzmann in Untersuchungshaft
Er hat sich im fortwährenden Dialog mit Sartre wie auch mit Simone de Beauvoir, mit der er eine langjährige Liebesbeziehung führte, einen eigenen Blick auf die Welt geschliffen - ein Blick, der einerseits kein Pardon kannte, wenn es um institutionelle Grausamkeiten und Verbrechen ging und andererseits von einer geradezu lyrischen Empathie benetzt war, sobald er sich mit den Opfern dieser Verbrechen beschäftigte. Als 1961 über 200 friedliche algerische Demonstranten beim Massaker von Paris von der französischen Polizei ermordet und teilweise in der Seine ertränkt wurden, schwiegen die französischen Medien. Nur Sartre und Lanzmann meldeten sich zu Wort und mussten für kurze Zeit in Untersuchungshaft.
Angekommen in Cap Ferret, durchschreitet Claude Lanzmann Erinnerungen wie diese beim Abendessen im beiläufigen Gespräch. Das Band läuft noch nicht, während wir auf der großzügigen Terrasse seines teuer gemieteten Ferienhauses eisgekühlten Sancerre trinken. Der Duft von angekokeltem Zeitungspapier und Wolfsbarsch hängt kaum wahrnehmbar in der Luft.
Jeder Versuch, ein konzentriertes Gespräch mit laufendem Tonband zu beginnen, wird von Lanzmann indes abgeblockt und stets auf den nächsten Tag verschoben. Ihn plagt ein schlechtes Gewissen. Er ahnt bereits, dass ich zwei Wochen später mit leeren Händen aus Cap Ferret abreisen werde, und er zeigt sich bemüht, mir ein alternatives Bespaßungsprogramm zu bieten: Einen Nachmittag fahren wir krachend und ohne Rücksicht auf Verluste mit seinem weißen Speedboat durch die hohen Wellen im Bassin von Arcachon und kentern fast. An anderen Tagen radeln wir mit Mountain Bikes durch die Radwanderwege des Archipels oder wir fahren mit einem schrottreifen Jeep in Ralleytempo über die Dünen des Großgrunds eines befreundeten Nachbarn.

Claude Lanzmann im Jahr 1986
Foto: AP/ Mark TerrillAn einem denkwürdigen, weil kulinarisch extremen Abend verzehren wir gemeinsam mit seiner Frau Dominique und der mitgereisten Dolmetscherin Anne Waak 75 Austern. Sein grimmig-sarkastischer Kommentar: "Ich habe Angst vor Deutschen, wenn sie zu hungrig sind." Und zum Dinner beim lokalen Buchhändler von Cap Ferret - Lanzmanns Autobiografie "Der Patagonische Hase" ist in Frankreich diesen Sommer das literarische Gesprächsthema Nummer Eins und verteidigt einsam die Spitze der französischen Buchverkaufslisten - rezitiert er zum fassungslosen Erstaunen der im Garten des Buchhändlers versammelten Haute Bourgeoise von Cap Ferret aus dem Gedächtnis in einem knapp 45-minütigen Monolog ein endloses Gedicht von Victor Hugo. Als ich nach 14 Tagen Power-Entertainment à la Lanzmann zurück nach Berlin fliege, schreibe ich eine Email an meinen Verleger: "Mission not accomplished. Es wird kein Buch geben."
Sechs Stunden für ein Interview
Gleichwohl gehören meine diversen Begegnungen mit Claude Lanzmann zum Teuersten und Zärtlichsten, was mir in meinem Leben widerfahren ist. Kennengelernt haben wir uns drei Jahre zuvor im Jahr 2007. "Shoah" war soeben bei dem Filmverlag absolut Medien erstmals in Deutschland auf DVD erschienen. Ich war damals Chefredakteur der Popkulturzeitschrift Spex, und ich war erstaunt darüber, dass kaum ein Feuilleton die Wiederveröffentlichung dieses Jahrhundertfilms zum Anlass genommen hatte, ausführlich über die ungebrochene Wichtigkeit des Werks zu berichten. Meine Bitte um ein Interview in Paris beantwortete Lanzmann persönlich. Ich solle ihn gleich in der kommenden Woche zu Hause im eleganten Bezirk Denfert-Rochereau besuchen kommen, er würde sich sechs Stunden für das Gespräch freihalten. Ich war nicht schlecht überrascht. Sechs Stunden!
In Paris realisierte ich nach dem Ende des schlussendlich achtstündigen Gesprächs, bei dem auch der Autor Jan Kedves zugegen war: Lanzmann kannte sich selbst und seine ausufernden Monologe besser als jeder andere. Er misst Zeit in anderen Dimensionen als normale Sterbliche. Als wir uns am Abend verabschieden, umarmt mich Lanzmann lange und inniglich. Mit den Worten "Kommen Sie morgen wieder. Ich habe Ihnen noch gar nichts erzählt", verabschiedet er sich von mir. Am darauffolgenden Sonntagnachmittag durchgehen wir, diesmal nur zu zweit, abermals einen Gesprächsmarathon. Wir verabschieden uns noch herzlicher.
Thema des Gesprächs: die irritierende poetische Erzählweise seines Films "Shoah". Er habe zwölf Jahre gebraucht, um in seinem Film "die Toten sprechen zu lassen". Der zweiteilige, insgesamt neuneinhalb Stunden lange, halb dokumentarische, halb inszenierte Film hat die systematische Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten zum Thema - Lanzmann wählte das Stilmittel des Interviews, um sich den Tötungsprozess von Augen- und somit Zeitzeugen der Vernichtungsindustrie bis ins letzte Detail schildern zu lassen. Das Ergebnis ist einerseits niederschmetternd.
Andererseits irritiert "Shoah" dank seiner ruhigen Inszenierung, dank seiner kinematografisch beeindruckenden Aufnahmen wunderschöner Landschaften - die Filmbilder zeigen die Tatorte, aber man sieht (vermeintlich) unberührte Wälder, idyllische Dörfer, friedliche Natur. Claude Lanzmanns im Rückblick filmhistorisches Verdienst ist es, die Lehren der Psychoanalyse auf die journalistische Form des Interviews anzuwenden, wenn er die Protagonisten seines Films, Opfer wie Täter, dazu zwingt, sich nicht bloß zu "erinnern", sondern das Erlebte ein zweites Mal zu "durchleben". Eben dieser Umstand macht es unmöglich, von "Shoah" als einem reinen Dokumentarfilm zu sprechen. ´
"Shoah" ist der vielleicht beste Film, der je gedreht wurde
Nicht nur in unserem zweitägigen Gespräch in Paris, sondern auch in ungezählten darauffolgenden Interviews, ist eines der wiederkehrenden Themen "die Zeit, und wie wir sie wahrnehmen." Claude Lanzmann: "Mit 'Shoah' habe ich die Zeit besiegt. In mehrerlei Hinsicht. Auf der narrativen Ebene insofern, als dass Gegenwart und Vergangenheit elliptisch verschwimmen; auf der dramaturgischen Ebene gelang es mir, aus über dreihundert Stunden Filmmaterial neuneinhalb Stunden herauszukristallisieren, die für den Zuschauer zu bewältigen sind."

Szene aus "Shoah"
Foto: Arte/ picture-alliance / obsNeuneinhalb Stunden Filmnarration, selbst wenn sie aufgeteilt ist in zwei Teile, zwingen selbst den hartgesottensten Zuschauer in die Knie. Gleichzeitig aber ist "Shoah" der vielleicht beste Film - wenn eine solche Kategorie an dieser Stelle gestattet ist -, der je gedreht worden ist. In der schmerzhaften Sektion des furchtbarsten Verbrechens, das der Mensch je begangen hat, gelang es Lanzmann, zum Kern der menschlichen Seele durchzustoßen.
Als Zuschauer durchleben wir durch die gespenstischen Schilderungen von etwa Simon Srebnik, einem Mitglied des "Sonderkommandos" des Vernichtungslagers von Chelmno, der von der SS dazu abgestellt worden war, Beweise für den industriellen Massenmord zu entfernen. Als er seine Arbeit verrichtet hatte, wurde er mit zwei Schüssen in den Hinterkopf exekutiert - und überlebte. Er wurde anschließend zum Kronzeugen in einigen Prozessen gegen die Täter des Nazi-Regimes, unter anderem im Eichmann-Prozess.
In "Shoah" begleitete und filmte Claude Lanzmann Srebnik, wie er an den Ort des Geschehens zurückkehrt: "Srebnik war für mich ein Geist, kein lebendiger Mensch, als er 1979 auf die Bauern von Chelmno traf. Die Szene findet vor dem Portal der katholischen Kirche des Dorfes statt, in der die Juden damals eingepfercht und von wo aus sie in den todbringenden Laster getrieben wurden. 400.000 Juden wurden auf diese Weise im Laufe der Jahre auf dem Weg von der Kirche zum Massengrab vergast. Und das ganze Dorf hat es gesehen. Das Besondere an dieser Szene ist, dass sie kurz von einer katholischen Prozession unterbrochen wird. Vorher sprechen die versammelten Polen ein wenig mit Srebnik. Nach der Prozession haben sie ihn komplett vergessen, obwohl er nach wie vor in ihrer Mitte steht. Die alten antisemitischen Vorurteile brechen ungebremst hervor. In dieser Szene steht der wahre Jesus Christus zwischen den polnischen Bauern, und sie sehen ihn nicht."
Behandelt wie Könige
Natürlich wartet "Shoah" in seiner epischen Laufzeit mit etlichen weiteren Szenen auf, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen - und seltsamerweise zugleich den Glauben an das Gute im Menschen aufrecht erhalten, ja, geradezu beschwören.
Im Laufe der Jahre wurde Claude Lanzmann für mich wie zu einem zweiten Vater. Wir teilten die intimsten Bekenntnisse und nahmen uns stets alle verfügbare Zeit, um den Kontakt aufrecht zu erhalten. Einmal lud ich ihn ein in das Berliner Restaurant Grill Royal. Wir wurden von einem algerischen Kellner bedient, der Lanzmann erkannte und mit den Worten begrüßte: "Sie sind für uns ins Gefängnis gegangen". Wir wurden wie Könige behandelt. Die Gegeneinladung erfolgte wenige Jahre später in einem sündhaft teuren Fischrestaurant in Denfert-Rochereau. Wir aßen, als Reminiszenz an den surrealen Urlaub in Cap Ferret, Austern und Moules du Bouchot.

Claude Lanzmann:
Foto: Adam Benzine/ AMPASSein Auto, einen schwarzen Saab, parkte er auf dem Blumenbeet vor dem Restaurant. Als wir unser Nachtmahl mit einer Folge von exklusiven Schnäpsen beendet hatten, stellte er mir Dominique Strauss-Kahn vor, der an einem Nebentisch mit einer Reihe attraktiver Frauen ebenfalls zu Abend gegessen hatte. "Darf ich Ihnen den zukünftigen Präsidenten der Französischen Republik vorstellen", das waren seine Worte. Es sollte anders kommen. Auf dem Rückweg zu seiner Wohnung raste Lanzmann mit seinem Saab und aufgeblendetem Fernlicht durch die leeren Straßen des 14. Arrondissements, hupte an einer Kreuzung aufgebracht Rucksacktouristen vom Asphalt. "Haben diese jungen Spinner keine Augen im Kopf?", schimpfte er. Wir waren bei Rot über die Ampel gefahren.
Das letzte Mal traf ich Claude Lanzmann zu seinem 90. Geburtstag am 27. November 2015 in Berlin. Er rief mich kurzfristig an, ob ich nicht zur Laudatio auf sein Lebenswerk in die französische Botschaft am Pariser Platz am Brandenburger Tor kommen möge. Das anschließende Abendessen verbrachten wir im kleinsten Kreis zu viert in einer heruntergewirtschafteten, aber teuren Touristenfalle am Berliner Gendarmenmarkt. Es war laut, und die Kellnerin verschüttete die bestellte Fischsuppe fast auf Lanzmanns teurem Anzug. Zur Entschuldigung reichte sie grinsend Papierservietten.
Unerträglicher Druck in der Familie Lanzmann
Zu diesem Zeitpunkt litt Claude Lanzmanns damals erst 21-jähriger Sohn Félix unter einer terminalen Krebserkrankung. Ich werde das Telefonat, in welchem Claude Lanzmann mich ein Jahr zuvor anrief und von der Schicksalsnachricht unterrichtet, nie vergessen. Am anderen Ende der Leitung: ein gebrochener Mann. Félix war ein Mathegenie. Claude Lanzmann erwartete von ihm, dass er eines Tages der beste Mathematiker der Welt sein würde - in dem Sinne gedacht, dass auch ein Mathematiker die Zeit besiegen könne, gleich dem Vater, der die Zeit zuvor mit "Shoah" besiegt hatte.
Der Druck, der in der Familie Lanzmann herrschte, war bisweilen unerträglich. Indes gab es stets einen ausgleichenden, die Funktion eines Überdruckventils einnehmenden Humor, dem man freilich gegebenenfalls adäquat zu kontern hatte, um sich nicht eine böse Bemerkung einzufangen. Als Félix am 13. Januar 2017 seiner schweren Krankheit erlag, schickte Claude Lanzmann eine knappe SMS: "Mein Sohn ist in einem heldenhaften Kampf gegen das Schicksal gestorben. Ich umarme dich."
Zum ersten Mal hat er mich nicht gesiezt. Ein zweites, ungleich schwerer zu ertragendes Erdbeben hatte Claude Lanzmann erschüttert. Die erste und bis dato nach seinen Worten einzige Niederlage seines Lebens hatte er ausgerechnet mit der Premiere von "Shoah" 1985 erlebt, weil Jean-Paul Sartre, gestorben am 15. April 1980, den fertig geschnittenen Film nicht mehr hatte sehen können: "In gewisser Weise betrachte ich 'Shoah' als ein Werk in der Tradition Sartres. Der Film ist im wahrsten Sinne des Wortes erschöpfend - wie viele Werke Sartres auch. Er ist total. Dann wiederum ist 'Shoah' ganz anders als die Arbeiten Sartres. Es ist so traurig, dass er 'Shoah' nie hat sehen können. Als ich mit der Arbeit begann, war er längst erblindet. Und als ich 'Shoah' beendet hatte, war er bereits tot. Das ist die Tragik meines Lebens."
Claude Lanzman verstarb am 5. Juli 2018 in Paris.