Das bedrohte Wort Es lebe der Chaot!

Alterschwache Autonome, fußlahme Randalierer: Selbst der Krawall ist nicht mehr das, was er mal war. Soll die Industrie nun die Chaostage mit Sponsoring fördern? Bodo Mrozek plädiert für das trendgerechte Remodelling eines Wortes.

Der Mai, von dem es heißt, er mache alles neu, ist nicht irgendein Monat. Er ist eine Art deutscher Gemütszustand, manchmal auch ein Ausnahmezustand, wie man an allerlei Ritualen vom Maibaum über die Maibowle bis zum Maitanz ablesen kann. Der Mai ist Auftakt der Monate ohne R, in denen man einer alten Überlieferung zufolge keine Muscheln essen, dafür aber seine Betten im Freien auslüften soll. Im Freien finden auch die Auftaktveranstaltungen statt, die den Mai mit einer traditionellen Balgerei einläuten. Dieses Jahr war einiges anders.

Schon während der vergangenen Jahre hatte sich eine gewisse Behäbigkeit der Maikrawalle bemächtigt. Bei Aufmärschen des hedonistischen Wochenendproletariats dominierten zunehmend die aus den Vororten angereiste Generation Flatrate, in den Fäusten keine Steine, sondern Bierdosen: Ballermann statt Pflasterstrand. Geriet versehentlich mal eine Mülltonne in Brand, dann warfen sich sämtliche Fotografen übereinander um mit dem dürren Rauch doch noch die beliebte Überschrift "Kreuzberg in Flammen – Grölende Terror-Punker jagen weinende Polizisten durch die Straßen" zu illustrieren.

In diesem Jahr leckte die alles verschlingende Nostalgiewelle auch an jenen altehrwürdigen Mai-Ritualen. In der Presse kamen schon vorab Veteranen der Bewegung zu Wort. Im Berliner "Tagesspiegel" etwa durfte sich "Mao" Meyer äußern, ein in Ehren gealtertes Urgestein der Kreuzberger Autonomen, der sich selbst zur "bildungsnahen Unterschicht" zählt und als Erzieher-Helfer in einer Grundschule arbeitet. Nach Angaben des "Tagesspiegels" hat er es bisher vermieden, sich mit der herrschenden Ordnung zu versöhnen. Das Steinwerfen etwa praktiziere er nicht mehr ganz so häufig – für den mittlerweile 40-jährigen "auch eine Frage der körperlichen Fitness".

Wer wollte es "Mao" verdenken? Mit 40 beginnen die ersten Zipperlein. Man stelle sich das bildlich vor: Kreuzberg in Flammen. Zuckendes Blaulicht. Tränengas in Schwaden. Rote Fahnen wehen. Weiße Helme glänzen. Plötzlich das Kommando "Knüppel aus dem Sack!" Ein Moment, der schon immer Adrenalin freisetzte. Und heute? Kaum bückt man sich nach dem ersten Pflasterstein, da durchzuckt es einen schmerzhaft: Der Ischias! Die Bandscheiben! Der Hexenschuss! Ja, da macht auch die schönste Randale keinen Spaß mehr. Früher konnte man am nächsten Morgen im Straßencafé heroisch mit dem Eisbeutel die revolutionären Blessuren kühlen, heute schleicht man verschämt mit steifem Rücken zu Fangopackung und Rehamaßnahme. Und auch die Nachwuchsfrage scheint bei der Polizei irgendwie besser gelöst als beim schwarzen Block.

Chaos als Urzustand

Ist es da ein Wunder, dass auch das zum Ritual gehörende Vokabular einen ganz eigenen Wandel durchmacht? Das altehrwürdige Wort Chaot etwa lässt sich auf den griechischen Dichter Hesiod zurückführen. Er besang das Chaos als den Urzustand einer wüsten Leere, die lange vor der Erde bestand. Ein Zustand, der im Alten Testament auch auf Hebräisch als Tohuwabohu bekannt ist und sich heute nur noch schwer wiederherstellen lässt.

Dem Etymologen Dietrich Busse zufolge ging das Wort Chaot erst Ende der siebziger Jahre in die deutschen Wörterbücher ein. Laut Duden, Brockhaus und Wahrig bezeichnet es seitdem eine Person, die politische Ziele mit Hilfe von Unruhe stiftenden Maßnahmen durchsetzen will. Spätestens seit einer Straßenschlacht um einen von Punks belagerten Brunnen im Wuppertal des Jahres 1982 gibt es mit den sogenannten Chaostagen dazu auch eine passende Jahrestagung, die das altgriechische Wort im Titel führt. Und auch ein als Vereinigung von Hackern bekannter Computer Club macht sich um die Pflege des altersschwachen Wortes verdient.

Da stehen die Haare zu berge

Dem widerfährt nun auch Hilfe aus gänzlich unerwarteter Richtung. Was altersschwache Autonome nicht mehr zu retten vermögen, könnte jetzt zeitgemäßes Remodelling richten. Das Produkt "Chaot" kostet 5,49 Euro und kann in einer stahlblauen 100 Milliliter-Dose ganz legal im Drogeriebedarf erworben werden. Der Hersteller bewirbt das aktuelle Styling-Mittel mit den sinnstiftenden Worten: "Hip ist, wer seinen Haaren die gleiche Freiheit lässt, wie sich selbst: unkonventionell, kreativ, nach eigenen Regeln. Ordnung ist, was man eigenhändig durcheinander bringt."

Neue Styling-Impulse also für eine altersschwache Szene und für ein angestaubtes Wort. Daraus könnten sich neue Partnerschaften ergeben: Ein gezielt projektiertes Sponsoring der Kosmetik- und Pflegeindustrie könnte selbst schütter gewordene Traditionsevents in gänzlich neuem Look erstrahlen lassen und so mehr Glanz und Volumen stiften. Wie war das noch mal? Ordnung ist, was man eigenhändig durcheinander bringt. Also aufgemerkt, liebe Produkt-Designer. Bis zum 25. Jubiläum der Chaostage sind noch ein paar Wochen Zeit.

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