"Das Echolot" Walter Kempowski gestorben

Deutschland verliert einen großen Schriftsteller. Walter Kempowski, einer der meistgelesenen Literaten unserer Zeit, starb gestern Nacht im Alter von 78 Jahren in einem Krankenhaus bei Bremen.

Bremen - Selbst im Angesicht des Todes war er immer ein wenig zynisch und provozierend. "Ich sterbe doch gerne. Ich freue mich doch darauf", hatte Walter Kempowski jüngst noch im SPIEGEL verkündet.

Bei solch messerscharfen Äußerungen visierte der in Rostock geborene Schriftsteller sein Gegenüber meist eindringlich an, lauerte freudig-gespannt auf die Wirkung seiner Worte. Nun ist sein angeblicher Wunsch eingetreten: Gestern Nacht gegen 3 Uhr starb Walter Kempowski im Alter von 78 Jahren im Krankenhaus Rotenburg/Wümme bei Bremen.

In der Todesstunde sei seine Familie bei ihm gewesen, teilte der Verlag Albert Knaus mit. Die Beerdigung werde im kleinen Kreis stattfinden, ein genauer Tag stehe noch nicht fest. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach den Angehörigen ihr Mitgefühl aus.

Kempowski litt seit langem an Darmkrebs. Bereits im Herbst 2006 diagnostizierten die Ärzte die Krankheit - und gaben ihm noch drei Monate zu leben. Doch Kempowski kämpfte gegen den Krebs, schrieb weiter an seinem neuen Buch "Kleine Liebe zu Trompeten", das nun unvollendet bleibt. Zu den berühmten Literaturnachmittagen in seinem Haus Kreienhoop in dem niedersächsischen Dorf Nartum bei Bremen lud er bis zuletzt Gäste ein.

Der Schriftsteller gilt als einer der meistgelesenen deutschen Gegenwartsautoren. Mit seinen Büchern wies er sich nach Meinung der Fachkritik als "einer der ungewöhnlichsten und überraschendsten Begabungen der neueren deutschen Literatur" aus.

Von Kritikern lange Zeit unbeachtet

Dennoch wurde er von der Literaturkritik lange Zeit übersehen. Er schreibe kaum "etwas Eigenes", wurde dem leidenschaftlichen Sammler von Tagebüchern, Fluchtberichten, Briefen und Lebenserinnerungen deutscher Schicksale vorgehalten.

Erst 2002 erhielt er den Dedalus-Preis für Neue Literatur, 2005 wurde er mit dem Thomas-Mann-Preis ausgezeichnet, im gleichen Jahr wurde er für sein Lebenswerk mit dem Corine-Preis geehrt. Am 4. Oktober 2006 erhielt Kempowski schließlich von Bundespräsident Horst Köhler den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland.

Am 19. Mai dieses Jahres wurde in der Akademie der Künste in Berlin die große Ausstellung "Kempowskis Lebensläufe" eröffnet. Kempowski konnte wegen seiner schweren Erkrankung selbst nicht teilnehmen. Die Eröffnung der Ausstellung bezeichnete er als schönsten Augenblick seines Lebens. Bundespräsident Köhler würdigte Kempowski in der Ausstellungseröffnung als "Ein-Mann-Geschichts- und Erinnerungskultur-Unternehmen".

"Dokumentation der Gleichzeitigkeit"

Kempowskis literarisches Debüt erfolgte 1969 mit "Im Block", einem Bericht über seine Haftzeit in Bautzen. Acht Jahre, von 1948 bis 1956, verbrachte er dort, angeklagt wegen Spionage für die USA. Bekannt wurde der Schriftsteller mit seinen Romanen "Tadellöser & Wolff" und "Uns geht's ja noch gold".

Beide Bücher gehören zu Kempowskis "Deutscher Chronik", die insgesamt neun Bände umfasst, darunter auch die Werke "Ein Kapitel für sich" (1975) und "Aus großer Zeit" (1978). "Tadellöser & Wolff" und "Ein Kapitel für sich" wurden für das ZDF verfilmt.

Internationale Anerkennung erhielt Kempowski für sein zehnbändiges Werk "Das Echolot" mit Dokumenten aus den Jahren 1941 bis 1945. Die ersten vier Bände der Collage aus zeitgenössischen Aktenvermerken, Berichten, Briefen und Tagebuchaufzeichnungen erschienen bereits 1993, der letzte Band 2005. Insgesamt arbeitete der Autor 26 Jahre an seinem Mammutwerk, das er selbst eine "Dokumentation der Gleichzeitigkeit" nannte.

"Archivar unpublizierter Autobiographien"

Kempowski wurde am 29. April 1929 als Sohn eines Schiffsmaklers und Reeders in Rostock geboren. Er studierte in Göttingen Pädagogik. Mitte der fünfziger Jahre zog er in den Westen und arbeitete jahrelang als Dorfschullehrer in Niedersachsen, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete.

Seit Mitte der sechziger Jahre lebte Kempowski mit seiner Frau Hildegard und den beiden Kindern in Nartum bei Bremen. Dort arbeitete er zunächst als Lehrer, nachdem er sein Abitur nachgeholt und in Hamburg studiert hatte. Von den siebziger Jahren an widmete er sich dann überwiegend seiner literarischen Arbeit und veranstaltete in seinem Haus auch Literaturseminare.

1980 gründete er sein viel beachtetes zeithistorisches "Archiv für unpublizierte Autobiographien", in dem er seither in Form von Tagebüchern, Fluchtberichten, Briefen, Lebenserinnerungen und Fotos deutsche Schicksale sammelt. Zudem wurde er Lehrbeauftragter für Fragen der Literatur-Produktion an der Universität Oldenburg (bis 1991) und übernahm nach einer Lesereise durch die USA einen Lehrauftrag an der Universität von San Diego.

Haus Kreienhoop: Domizil der Literatur

Mit seinem Haus Kreienhoop im niedersächsischen Dörfchen Nartum schuf Kempowski der Literatur Anfang der siebziger Jahre auf mehr als 700 Quadratmetern ein Domizil. In Kreienhoop veranstaltete er seine Literaturseminare, führte das gigantische Archiv für sein "Echolot"-Kriegstagebuch und bekam Besuch von prominenten Besuchern aus Politik und Literatur. Es gibt kaum einen prominenten deutschen Schriftsteller, der nicht dem Ruf nach einer Lesung auf Kreienhoop gefolgt wäre.

Die Namen besonders prominenter Gesprächspartner wie Martin Walser, Lew Kopelew und Erich Fried ließ er sich im Turmzimmer des Hauses auf Metallplättchen eingravieren. Bundespräsident Horst Köhler besuchte Kempowski 2005 auf Kreienhoop - und bat ihn um Rat für seine Rede zum 60. Jahrestag des Kriegsendes.

ssu/dpa/AP/ddp/AFP

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