
Politik ohne Fakten Das gefühlte Zeitalter

Astrologisches Geburtshoroskop
Foto: Stiftung WarentestNichts an dem Wort "postfaktisch" ist schlauer als das morgendliche Kopfschütteln und "Alles Trottel"-Murmeln, wenn im Radio die Nachrichten kommen. Das Wort des Jahres mag das Wortnachschubbedürfnis derer stillen, die gerne "exorbitant" statt "doll" sagen, aber so viele sind das ja auch wieder nicht. Für etwas anderes ist das Wort "postfaktisch" nicht gut.
Es ist sogar schädlich, weil sich in ihm die selbstmitleidige Hybris derer spiegelt, die glauben, es gäbe eine tapfere Minderheit von Wahrheitskriegern, die mit nichts als der ehrenvollen Waffe der nackten Wahrheit kämpfen. Oder auch die naive Nostalgie derer, die denken, es hätte mal eine Zeit gegeben, in der mit bloßen Händen geschürfte Fakten das Fundament der Gesellschaft gebildet hätten.
Das Wort "postfaktisch" wurde vom Verein Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) zum Wort des Jahres gewählt, weil es auf einen "tiefgreifenden politischen Wandel" verweise, der darin bestehe, "dass es in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht". Es gebe immer mehr Menschen, die bereit seien, "Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen bereitwillig zu akzeptieren". Es sei dabei betont nicht von "kontrafaktisch" die Rede, sondern von "postfaktisch", weil es nicht nur um Irrtümer, sondern um eine ganz neue Epoche gehe.
Es gibt Leute, die benutzen den Begriff "postfaktisch" ironisch anstelle des Wortes "gelogen" oder "falsch", so wie man sture Leute manchmal "beratungsresistent" nennt. Andere aber meinen es mit "postfaktisch" ganz ernst, und paradoxerweise wird die Idee dadurch fast ein bisschen richtig: Wer glaubt, wir befänden uns in einem postfaktischen Zeitalter, ignoriert zumindest ganz postfaktisch die Tatsache, dass es in der Politik immer schon um Dinge ging, die nicht einfach "wahr" oder "falsch" sind, sondern sehr viel mit Emotionen zu tun haben.
Angst, Enttäuschung, Hoffnung, Wut, Solidarität, Sehnsucht, Rache- und Sicherheitsbedürfnisse sind alle ziemlich subjektive und doch wirksame Dinge. Sie alle haben seit jeher Politik am Laufen gehalten, und zwar am Laufen in einem grundlegenden Sinne und nicht in dem Sinne, dass ein paar rationale kühle Köpfe vor einer Horde dämlicher Zombies weglaufen, die Fake News auf Facebook gelesen haben.
Wir haben Horoskope gelesen und Münzen gerieben
Wissen Sie noch, damals, als wir vor den Wahlen noch die Parteiprogramme aller zur Wahl stehenden Parteien durchgearbeitet haben? Als wir alle Zahlen und Begriffe, die uns in den Nachrichten irgendwie verdächtig vorkamen, in dicken Enzyklopädien und verzweigten Archiven nachschlugen, um zu verifizieren oder zu widerlegen, was geht? Wissen Sie noch? Ich auch nicht.
Auch vor dem postfaktischen Zeitalter haben Menschen die Münzen, die der Automat nicht nimmt, an selbigem gerieben, sie haben Horoskope gelesen und Zahnpasta gegen Pickel benutzt. Das ist alles nicht besonders politisch, aber eben auch nicht der Stein der Weisen. Viele der Fakten, die wir für gesichert halten, sind Annahmen, die wir nie überprüft haben. Ich muss Leuten einfach glauben, dass es eine Stadt namens New York gibt, wenn ich noch nie da war und mir noch nie Mühe gegeben habe nachzuforschen, ob es nicht alles eine riesige Verarschung ist.
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Die wichtigste Frage der Politik ist die Frage, wer die Macht hat, und wenn es dabei nicht nur darum geht, wer die meisten Panzer und die krassesten Drohnen hat, dann geht es immer auch um Erzählungen: darüber, wie die Macht erlangt wurde, aufrechterhalten wird und worauf sie sich stützen kann. Und wo erzählt wird, kann gelogen werden. Es kann zurechtgeschoben, verdrängt und rationalisiert werden.
Wenn man sich durch die politische Ideengeschichte liest, verbringt man viel Zeit damit, Leuten dabei zuzusehen, wie sie sich Dinge entweder schönreden oder wie sie an der Dummheit oder Verlogenheit der anderen verzweifeln. Rationalität und wasserdichte Faktenkenntnis waren nie die primären Merkmale von Politik oder der allgemeinen Mentalität. Die Vertreter des Positivismus haben versucht, eine solche Weltsicht zu etablieren - und entsprechend bekannt ist diese Denkrichtung heute: Keine Sau kennt sie.
Es ist nicht neu, dass Leute glauben, was ihnen passt
Dementsprechend ist das, was "postfaktisch" genannt wird, zwar da, denn die Leute halten sich auch an andere Dinge als die Wahrheit. Aber neu ist es nicht. Was Adorno in seinen "Studien zum autoritären Charakter" von 1950 schrieb, könnte auch von heute sein: "Alle modernen faschistischen Bewegungen, einschließlich der Praktiken der gegenwärtigen amerikanischen Demagogen, haben es auf die Unwissenden abgesehen; sie stutzen die Tatsachen bewusst in einer Weise zurecht, die nur bei denen zum Erfolg führt, welche mit ihnen nicht vertraut sind. Die Unkenntnis der heutigen komplexen Gesellschaft führt zu einem Zustand von allgemeiner Unsicherheit und Unruhe, der den idealen Nährboden für reaktionäre Massenbewegungen modernen Typs abgibt. Solche Bewegungen sind immer 'völkisch' und hämisch anti-intellektuell." Das war 66 Jahre vor Trump.
Adorno über "postfaktisch". [aus: Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter, 1973 (1949/1950)] pic.twitter.com/Yl6fi1eL0d
— Nils Markwardt (@FJ_Murau) December 10, 2016
Wenn Max Weber in dem Vortrag "Politik als Beruf" 1919 über die englischen Parlamentarier spricht , dann sieht er eine "Gegenwart, wo vielfach rein emotional mit Mitteln, wie sie auch die Heilsarmee verwendet, gearbeitet wird, um die Massen in Bewegung zu setzen." Er kommt zu dem Schluss, dass man den bestehenden Zustand eine "Diktatur, beruhend auf der Ausnutzung der Emotionalität der Massen" nennen könnte. Das war 97 Jahre, bevor die GfdS feststellte, "dass es in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht".
Wer noch weiter zurückgehen will, findet bei Niccolò Machiavellis "Der Fürst" von 1513 die Beobachtung: "Die Menschen sind so einfältig und hängen so sehr vom Drucke des Augenblicks ab, dass derjenige, der sie hintergehen will, allemal Jemand findet, der sich betrügen lässt. [...] Die ganze Welt ist voll von Pöbel, und die wenigen Klugen kommen nur zu Worte, wenn es dem großen Haufen, der in sich selbst keine Kraft hat, an einer Stütze fehlt." Das war 503 Jahre vor Fake News.
Wenn wir denken, es sei neu, dass Leute glauben, was ihnen passt, verlieren wir die Möglichkeit, aus dem zu lernen, was längst da ist . Denn irgendwo zwischen der Idee, 2016 sei ein verfluchtes, Unglück bringendes Jahr, und der damit verbundenen abergläubischen Hoffnung, irgendetwas würde besser werden, sobald die Zeichenfolge 2-0-1-6 von der Datumsanzeige verschwindet, und der Idee, wir würden uns in einer neuen, nie dagewesenen Ära befinden, in der neue Regeln der Irrationalität und Verwirrung gelten - irgendwo zwischen diesen beiden Ideen liegt die vielleicht ganz brauchbare Vorstellung, dass manche Dinge sich ändern und andere nicht. Und dass man aus dem, was in der Vergangenheit schiefgelaufen ist, entweder lernen kann oder eben nicht.