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Leo-Baeck-Archiv online: Digitale Zeitreise

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Jüdisches Leo-Baeck-Archiv Jeder Klick ein Schicksal

10.000 Briefe, 25.000 Fotos, 80.000 Bücher: Das Leo-Baeck-Institut birgt einen unschätzbaren Nachlass deutschsprachiger Juden. In der New Yorker Zentrale lagern Dokumente aus mehr als 500 Jahren - auch von Goethe, Mendelssohn und Einstein. Jetzt wurde die einmalige Sammlung digitalisiert.

Die Entscheidung muss unvorstellbar schwer gewesen sein. Wie so viele Juden versuchten auch die Bambergers aus Nazi-Deutschland zu fliehen. Doch die Familie bekam nur für eine einzige Person Ausreisepapiere nach Amerika. Wer durfte gehen - also überleben? Sie entschieden sich für Albert, den ältesten Sohn.

Albert Bamberger, damals 17, traf im Oktober 1938 in New York ein. Jahrelang mühte er sich vergeblich, die Eltern, Großeltern und seinen jüngeren Bruder nachzuholen. Die Behörden mauerten, beidseits des Atlantiks. 1942 wurde die Familie ins Ghetto Izbica deportiert, wo sich ihre Spur verlor. Dass sie alle umkamen, fand Bamberger erst nach Kriegsende heraus.

Bambergers Schicksal, eine Art reale Version von "Sophies Entscheidung", ist eines von zahllosen Holocaust-Dramen, die selbst bis heute kaum bekannt sind. Und doch ist es bis ins bitterste Detail nachzulesen - in 14 Ordnern voller vergilbter Akten und Briefe, versteckt in einem altmodischen Rollregal im vierten Stock eines Backsteinbaus mitten in Manhattan.

Oder jetzt per Mausklick.

In dem Backsteinbau sitzt das Leo-Baeck-Institut (LBI), das weltgrößte Nachlassarchiv deutschsprachiger Juden. Lange nur Insidern vertraut, bergen die klimatisierten Lagersäle weit mehr als die Gräuel des Holocaust. Das LBI pflegt ein jüdisches Kulturerbe, das fünf Jahrhunderte zurückreicht - darunter mehr als 10.000 Briefe und andere Dokumente, 2000 Memoiren, 25.000 Fotos, 80.000 Bücher, 16.000 Zeitschriften und 2500 Manuskripte.

Das gesamte Universum deutsch-jüdischer Historie

Früher mussten sich Akademiker, Studenten, Genealogen, Autoren, Filmemacher und Familienangehörige persönlich nach New York bemühen, um die Objekte in einem Lesesaal zu sichten. Doch jetzt öffnet das LBI sein Archiv einem viel breiteren Kreis: Es hat seine Bestände komplett digitalisiert, in vierjähriger Kleinarbeit, die fast abgeschlossen ist. Fortan hat jeder darauf Zugriff - von zu Hause aus.

"Wir hüten das gesamte Universum deutsch-jüdischer Historie", sagt Carol Kahn Strauss, die Direktorin des 1955 gegründeten Instituts, das nach dem bedeuteten Rabbiner benannt wurde. Manchmal staunt sie selbst über das, was ihre Regale bergen: "Wir glauben, dass wir alle Geschichten kennen. Dann plötzlich höre ich noch eine, die ich noch nie gehört habe."

DigiBaeck , das erste Online-Archiv seiner Art, bietet seltene Einblicke in jüdisches Leben: Geburts- und Sterbeurkunden, Schulzeugnisse, Telegramme, Luftpostbriefe, Amtsbescheide, Tagebücher, Poesiealben, Kochrezepte. Hinzu kommen Tonbänder mit bisher rund 400 Interviews von Holocaust-Überlebenden.

Die Sammlung offenbart, wie lange jüdische Geschichte schon mit der Geschichte des deutschsprachigen Raums verwoben ist - und dass das nicht nur Schattenseiten hatte, ganz im Gegenteil. "Wir sind keine Holocaust-Organisation", sagt Kahn Strauss, die diese übliche Gleichsetzung für engstirnig hält: "Die ganze Geschichte zählt."

Das betont auch der Archivar Hermann Teifer. "Unsere Kultur", sagt er in seinem kleinen, überladenen Büro, "existierte lange vorher". Das älteste Objekt hier, ein Gesetzbuch der "Stadt Nüremberg", stammt sogar aus dem Jahr 1484.

Goethe, Luther, Einstein

Das beweist die Sammlung auch mit anderen, seltenen Stücken. Albert Einsteins Habe: Briefe, Privatfotos, ein verziertes Gästebuch. Der Nachlass der Mendelssohn-Dynastie, vom Philosophen Moses Mendelssohn - dessen eckige Lesebrille hier liegt - bis zu seinem Enkel, dem Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy. Martin Luthers judenfeindliche Traktate. Ein Brief Goethes von 1828. Korrespondenz von Heinrich Heine, anno 1844.

Diesen auf drei Gebäude und zwölf Etagen verteilten Andenkenberg ins Netz zu stellen entpuppte sich als Mammutaufgabe. Aneinandergereiht hätten die Kartons mit den Dokumenten mehr als 600 Meter Länge. "Ich könnte Tage hier verbringen", begeistert sich Archivar Michael Simonson, "und immer wieder Neues finden."

Pro Monat schaffte das LBI 15 gefüllte Kartons in ein Labor in New Jersey, wo das Internet Archive, ein privates Projekt zur digitalen Langzeitarchivierung, jedes Stück einzeln begutachtete, fotografierte und einscannte. Parallel dazu wurde das komplette Material auf Mikrofilm übertragen. Das gilt bis heute als die beste, langlebigste Methode der Archivierung. Die Mikrofilme sind in einem stillgelegten Kalkbergwerk im Westen Pennsylvanias verbunkert. Die virtuellen Dateien landeten auf zwei Computerservern hier in New York City.

Bevor eine Akte zum Scannen geht, wird sie sortiert, gelesen, transkribiert und übersetzt. Es ist ein Job, den das LBI mit seinen nur 25 festen Angestellten nicht bewältigen kann. Deshalb beschäftigt es Dutzende Freiwillige - oft Holocaust-Überlebende, die damit ihre ganz eigene Vergangenheitsbewältigung betreiben.

Im quirligen Durcheinander des LBI-Hauptsaals sitzen da gerade Marianne Salinger und Ruth Heimen, beide 88, sowie Arthur Rath, 94. Für das Trio ist ihr Engagement im Archiv auch eine Ehrung der Toten. "Ich kann sie nicht beschützen, ich kann sie nicht nähren, ich kann sie nicht beherbergen", sagt die Ex-Berlinerin Salinger, deren eigener Familiennachlass hier verewigt ist. "Aber ich kann sie in Erinnerung behalten." Die Papiere - manchmal in Sütterlin, das Salinger als eine der wenigen noch lesen kann - mache die grausigen Statistiken jener Zeit lebendig: "Sie werden zu den wunderschönsten Menschen."

"Ich lese nichts nach 1939"

Andere können aber gerade die Holocaust-Akten auch heute noch nicht verkraften. "Ich lese nichts nach 1939", erklärt Heimen mit plötzlich fester Stimme. "Meine Eltern wurden im Holocaust getötet." An ihre eigene Flucht, als 14-Jährige im Zug über die Grenze nach Holland, kann sie sich kaum mehr erinnern. Nur eines hört sie noch - die Stimme des Nazi-Kontrolleurs, der ihr die billige Armbanduhr abriss: "Ein Judenschwein braucht keine Uhr!"

Mit dem Sprung ins Internet hofft das LBI auch die jüngste jüdische Generation anzusprechen. Vor allem in Deutschland, sagt Kahn Strauss, spüre sie da wachsendes Interesse. Bisher ist das LBI dort nur mit einer Person vertreten, einem Archivar im Jüdischen Museum Berlin. Ob es mehr geben wird, hängt von den Finanzen ab. Ein Drittel des LBI-Haushalts speist sich aus Spenden und Nachlässen, eine schrumpfende Summe. Der Rest besteht aus diversen Zuwendungen der Bundesregierung über insgesamt rund 650.000 Euro pro Jahr.

Versiegt der Geldhahn, könnten die LBI-Kostbarkeiten eines Tages vielleicht sogar nur noch virtuell zu bestaunen sein. Etwa das Tagebuch eines jüdischen Soldaten namens Isaac Loewenstein, der im 19. Jahrhundert in der preußischen Armee diente. "Ich hatte einen beschwerlichen und traurigen Weg", vermerkte er zu Beginn eines Feldzugs am 5. März 1821.

"Ein Jude!", begeistert sich Archivar Teifer. "In der preußischen Armee!" Seine Augen hinter der Brille blitzen wie die eines kleinen Kindes.

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