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Dating-App Tinder: Wisch! Mich! Weg!

Foto: Anne Backhaus

Sex-Dating mit Tinder Bitte einmal willig lächeln

Millionen Menschen suchen mit der Dating-App Tinder nach potenziellen Partnern für One-Night-Stands. Richtig heiß ist das Ganze nicht, findet Anne Backhaus. Genauso wenig wie der Anblick vieler Profil-Fotos.

Ich, 32 Jahre alt, weiblich, 57/168, vorzeigbar, mag Hunde und Katzen und keine Paprika, suche einen Mann zum Leben und sitze mit Sven* im Hinterhof eines Hamburger Klubs, drinnen wummert ein Konzert. Wir trinken Bier und Schnaps und reden über die Liebe. Na gut, wir haben kurz über die Liebe geredet und suchen nun auf seinem Handy nach einer Frau zum Ficken.

Sven, 30, ist ein blonder Mann mit einem zarten Gesicht. Gut gebaut, eloquent, intelligent, witzig. Romantiker noch dazu. Musikliebhaber und Händchenhalter. Sven ist außerdem bei Tinder. Laut Wikipedia "eine mobile Dating-App, die das Ziel hat, ihren Benutzern das Kennenlernen von Menschen in der näheren Umgebung zu erleichtern". Sprich: Jemanden um die Ecke zum Vögeln zu finden. Man kann sogar den genauen Umkreis einstellen. Tinder gibt es seit zwei Jahren und weltweit finden das viele Menschen super. Die Rede ist von nahezu 50 Millionen Nutzern .

Ich nutze weder Tinder noch eine andere Sex-App. Nichts gegen Vögeln um die Ecke, aber erstens geht das wunderbar ohne Handy und zweitens habe ich die Theorie, dass Paarungsplattformen vor allem deshalb gut besucht sind, weil sich die Menschen miteinander vom Leben ablenken. Es geht vielen vielleicht gar nicht so sehr um Sex, geschweige denn um ein reales Gegenüber, sondern um digitale Beschäftigung. Warum mag niemand mehr allein sein? Damit meine ich nicht nur nachts im Bett allein, sondern auch tagsüber an der Bushaltestelle allein. Oder abends im Klub. Einfach mal rumstehen und etwas denken. Oder fühlen. Nö. Lieber tippen.

Tinder-Nutzer verbringen viel Zeit damit, ihre Inbox zu checken, zu chatten und potenzielle Partner nach deren Selfies auszusuchen. Ich stelle mir das ähnlich nervig vor wie übers Internet ein Urlaubshotel zu buchen. Endlose Fotoreihen von Gebäuden, in denen man wohnen soll, die einem aber eher Angst einjagen. Mal ist der Pool zu klein, mal der Weg zum Meer zu weit. Und aufgepasst! Wird kontinentales Frühstück serviert?

Jenifer galoppiert uns entgegen

Ein spitzer Ellenbogen holt mich zurück ins Jetzt. Sven will, dass ich auf sein Telefon schaue. Sein Gesicht erstrahlt bläulich vom Displaylicht, in der Handy-Fickbörse räkelt sich Heike auf einer Kunstfelldecke, und ich lerne, wie ich die Brünette wegwischen kann. Bei Tinder streicht man die Fotos von Unerwünschten nach links, die Guten kommen nach rechts.

Claudia poppt auf. Sie hat ihr Bild mit einem Weichzeichner-Filter verschönert. Die 25-Jährige sitzt auf einer Bettkante, und ich zähle 18 Sticker aus Kellog's-Cornflakes-Packungen, die auf dem Kiefernholzrahmen kleben. Claudia, so stelle ich mir vor, hockt in ihrem Jugendzimmer und wartet seit Jahren auf das Leben. Ich mag mir nicht vorstellen, wer sie wohl in diesem Bett besucht. Ich sehe erst jetzt: Sie trägt als Oberteil nur einen roten Spitzen-BH. In ihrem Willen willig wirkend, kommt sie eher verletzlich als superheiß rüber. "An solche Anblicke gewöhnt man sich", sagt Sven und wischt Claudia weg. "Und immerhin wissen wir jetzt, dass wir sie nicht wollen." Stimmt, ein Vorteil.

Ich bin traurig, aber mache weiter - ein Satz, der ein ziemlich ehrlicher Tinder-Werbespruch wäre. Melanie, Sahra und Anika haben alle von unten in ihre Handykamera hochgeschaut, Sven und ich blicken in ihre Dekolletés hinab. Zwei der jungen Frauen stehen in einem Badezimmer, die dritte auf einer Wiese. Keine hat attraktive Füße. Wischwischwisch. Jenifer galoppiert uns in einem engen pinken Pullover auf einem sehnigen Pferd entgegen. Ihr Gesicht ist angestrengt verzerrt, das Oberteil schnürt sich ungünstig in Jenifers Seiten, das Pferd ist hübsch. Warum wählt man so ein Bild von sich? Sven spekuliert, dass das farbenfrohe Foto Lebensfreude ausdrücken soll. Er macht einen Screenshot und schickt ihn an einen Kumpel.

Bei Tinder zählt nur die Optik, wie in jeder Bar ja auch. Ich finde das okay, zumindest ist es ehrlich - bis auf die Selfies halt. Auf Tinder-Fotos scheint die Sonne (wenn überhaupt) nur von hinten durch die Haare. Die meisten Selbstporträts sind schwarzweiß und/oder halbnackt. Und fast jedes Bild verspricht etwas, das es eigentlich gar nicht halten will. Wer lebt schon zügellos am Strand oder wild im Badezimmer? Es herrscht die stille Übereinkunft, kurzfristig mit einem Bild überzeugen zu müssen - nicht mit dem eigenen Wesen oder möglicherweise gemeinsamen Hobbys. Und das Versprechen ist wichtig.

"Wir sind Profis, falls du Hilfe brauchst..."

Ich teile diesen Gedanken mit Sven und er schaut mich an, als sei ich etwas langsam im Kopf. "Klar", sagt er geduldig und erklärt mir sein System. "Schau, ich habe extra ein anspruchsvolleres Profilbild." Sven ist auf dem Foto nur schemenhaft zu erkennen, als Spiegelung in einer Autoscheibe. Im Hintergrund eine Wiese und Bäume, darunter ein Zitat aus einem französischen Filmklassiker. Obwohl wir zwischen vielen Menschen und Alkoholika sitzen, meine ich plötzlich frisches Laub zu riechen und würde gern in seine hellen Locken fassen.

"Taktik", sagt Sven. "Ich spreche so gezielt Frauen an, die gebildet sind und normalerweise nie zugeben würden, dass sie jemanden zum Ficken suchen", sagt er. "Tun sie aber." Svens Kontakte-Liste ist lang. Er geht rüber zur Bar und lässt mich mit seinen Frauen sitzen. Sein Handy liegt schwer in meiner Hand. Von links fragt eine raue Stimme, ob ich bei Tinder bin.

Raoul, 41, Bassist einer spanischen Punkband, sitzt mit seinem Kumpel neben mir. Beide haben schwarze Locken, dunkle Augenringe und im Leben augenscheinlich schon etwas zu viel gefeiert. Ich erkläre ihnen, dass ich Tinder nur übe. Raoul lacht. Beide zeigen mir ihre Displays - die App ist offen. "Wir sind Profis, falls du Hilfe brauchst...". Ich frage Raoul, mit wie vielen Frauen er gleichzeitig Nachrichten austauscht, und er muss nachzählen. "26", sagt er. "Die Intensität variiert. Mit manchen schreibe ich mir andauernd, mit anderen ein Mal die Woche oder so. Vielen nur kurz 'Hallo' und dann nie wieder." Und wenn er Sex mit den Frauen hatte? "Hä? Na dann schreibt man sich gar nicht mehr." Ach so.

Ich frage Raoul, ob ich seinen jüngsten Chat lesen darf. Er schiebt das Handy über den Tisch und beginnt sich eine Zigarette zu drehen. Schöne Finger hat Raoul.

Sabine, 16.15 Uhr: "Na?! ;)"

Raoul, 18.53 Uhr: "Hi :)"

Sabine, 18.57 Uhr: "Cool von dir zu hören."

Raoul, 19.26 Uhr: "Und was Machst du?"

Sabine, 19.27 Uhr: "Bin schon in Bett..."

Raoul, 20.15 Uhr: "Wow"

Es ist 22.13 Uhr. Ich sehe Raoul in die Augen und frage: "Willst du ernsthaft mit Sabine schlafen?" Er zündet seine Zigarette an und sagt: "Ja, aber nur wenn sich heute sonst nichts ergibt." Ich bin weit davon entfernt Sex-Chat-Expertin zu sein, kann mich aber nicht damit abfinden, dass es das jetzt gewesen sein soll. "Das ist doch überhaupt nicht heiß!", sage ich. Raoul nickt. "Warum machst du das dann?" "Weil's geht", sagt er und steckt das Handy in die Brusttasche seiner Jeansjacke. Blöd finde er eigentlich nur Frauen, die ihn nicht treffen wollen oder nie mehr antworten. Teilweise folge auf wochenlanges Schreiben einfach: nichts. "Das darf man halt nicht auf sich beziehen", sagt Raoul. "Für Frauen ist das wahrscheinlich viel schwerer, weil Männer häufiger abhauen."

Sven kommt zurück und bringt Schnaps mit. Wir prosten den Spaniern zu, die das nicht wahrnehmen, weil sie schon wieder auf ihre Smartphones starren. "Tinder?", fragt Sven. Ich nicke, nippe am Schnaps, gebe Sven sein Telefon zurück und mache mich auf den Weg zum Damenklo. Eine kurze Umfrage in der Schlange bestätigt, was Raoul vermutet hat: Von den elf Frauen vor mir sind neun bei Tinder und sie werden sofort sehr wütend, als ich nach Kontaktabbrüchen frage. Einige halten mir die "dummen" Profilbilder der Männer entgegen, die ihnen nie wieder schrieben. Keiner hat Sonne im Haar. Anscheinend zeigen Kerle eher ihre Muskeln oder ihr Auto. Ich will mit keinem schlafen.

"Du musst dich mal selber anmelden", sagt Sven, als ich mich wieder neben ihn setze. "Du würdest das auch dauernd machen." Ich überlege kurz, ob ich ihm sagen soll, dass ich in meinem Leben noch nie so allein war, wie ich es mit der App vermutlich wäre. Und dass er wahrscheinlich trotzdem Recht hat. "Viel zu kalt hier", sage ich. Wir gehen in den Klub und zählen Display-Gesichter.


*Name von der Redaktion geändert

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