
Interview Project Germany: Porträts aus den Nischen der Republik
David Lynchs "Interview Project" "Es war eine magische Reise"
Offiziell heißt das Vorhaben zwar "David Lynchs Interview Project", doch tatsächlich ist der "Twin Peaks"-Regisseur eher ein Schutzpatron des Vorhabens - und präsentiert das Projekt sehr charmant auf der dazugehörigen Website . Die Macher sind Austin Lynch, 28 Jahre, Sozialarbeiter und Sohn des Filmemachers, sowie der Fotograf mit dem Künstlernamen Jason S., 39 Jahre. 2009 waren die beiden New Yorker 20.000 Meilen quer durch die USA gereist und hatten unterwegs 121 Menschen interviewt. Entstanden ist ein berührendes Alltagspanoptikum der Vereinigten Staaten.
Im vergangenen Herbst haben sich die beiden Dokumentarfilmer Deutschland vorgenommen. Wie schon in den USA ließen sie sich dabei vom Zufallsprinzip leiten: Ohne feste Route fuhren sie los und holten Menschen vor die Kamera, die ihnen interessant erschienen. Ihre Interviewpartner fanden sie in schwäbischen Vorgärten und ostdeutschen Kleinstädten, sie sprachen mit Trampern, Rentnern und Rollstuhlfahrern und ließen sich von einer Hausfrau aus dem Harz in die Geheimnisse der Wiedergeburt einweihen. Sie stellten einfache, grundsätzliche Fragen: Wie würdest du dich beschreiben? Wovon träumtest du als Kind? Wer waren deine Eltern? Was ist das Wichtigste in deinem Leben? SPIEGEL ONLINE traf Austin Lynch und Jason S. kurz nach Abschluss der Dreharbeiten.
SPIEGEL ONLINE: Sie sind gerade zwei Monate lang durch Deutschland gefahren, sind dabei zufällig Menschen begegnet und haben mit ihnen Interviews geführt. Wie hat Ihnen das Land denn gefallen?
Lynch: Auch wenn es albern klingt: Es war eine magische Reise. Bei jedem Interview hatten wir das Gefühl: Hier sind wir richtig. Bevor wir losgefahren sind, hat man uns gewarnt, es sei schwierig, die Deutschen dazu zu bringen, über sich zu sprechen. Aber das Gegenteil war der Fall: Sie waren genau so offen wie unsere amerikanischen Interviewpartner.
Jason S.: Allerdings waren wir in Ostdeutschland zunächst etwas irritiert. Im Osten schien plötzlich alles anders zu sein. Wir hatten das Gefühl: Hier sind alle ablehnend, keiner will sich interviewen lassen. Es war, als sei eine dunkle Wolke über uns aufgezogen. Doch dann trafen wir plötzlich diese fröhliche, quasselige, rothaarige Frau auf einem kleinen Bauernhof. Da war die Wolke plötzlich verschwunden, und die Sache lief. Da haben wir wieder gemerkt: Menschen sind Menschen.
SPIEGEL ONLINE: Menschen sind Menschen?
Lynch: Darum geht es ja im "Interview Project". Wir wollen Menschen porträtieren. Wir stellen Fragen, die alle überall auf der Welt beantworten können. Jeder Mensch hat eine Kindheit, eine Geschichte.
Jason S.: Das Coole an diesen Interviews ist: Jeder ist es wert, über sich zu erzählen. Jeder hat seinen Platz.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie denn auch in den Gesprächen Unterschiede zwischen den Ost- und den Westdeutschen bemerkt?
Jason S.: Die Westdeutschen haben eigentlich nie über die Wiedervereinigung und die DDR gesprochen - das war im Osten ganz anders. Das Thema war immer präsent. Wir haben ja am 2. Oktober angefangen zu drehen - also einen Tag vor dem 20-jährigen Jubiläum der Wiedervereinigung.
SPIEGEL ONLINE: Gleich am zweiten Tag sind Sie in der Nähe von Oldenburg von jemandem angehalten worden, der Sie für ein Google-Street-View-Team hielt und verhindern wollte, dass Sie sein Haus fotografieren.
Jason S.: Wir sind eine kleine Seitenstraße langgefahren, Austin hielt die Kamera heraus, um ein paar Landschaftsbilder zu machen, und wir sahen diesen kleinen, alten Mann mit einem Yankees-Hut, der in seinem Garten arbeitete. Wir kehrten um, um ihn anzusprechen - da steht er aber schon auf der Straße und versperrt uns den Weg, um zu verhindern, dass wir sein Haus filmen. Er wäre perfekt für ein Interview gewesen. Aber er ließ sich nicht darauf ein. Vielleicht auch, weil seine Frau dazu kam und ihm abgeraten hat.
SPIEGEL ONLINE: Sowohl in den USA wie auch in Deutschland haben Sie meist außerhalb der großen Städte gedreht und eher Menschen interviewt, die Gelegenheitsjobs machen, die schwere Zeiten hinter sich haben, die älter sind. Wollten Sie bewusst Leute zeigen, die das Scheinwerferlicht sonst nicht trifft?
Lynch: Das war keine bewusste Entscheidung. Es liegt wohl eher daran, wo und wie wir gedreht haben. Leute, die im Büro arbeiten, trifft man eben nicht bei Tageslicht auf der Straße. Und wir möchten, dass die Leute sich öffnen - das ist auf dem Alexanderplatz eben nicht so gut möglich.
Jason S.: Man mäandert so mit dem Auto herum, mal links, mal rechts und sucht eine Umgebung, die ein Interview möglich macht. Orte, an denen es ruhig ist und Leute trotzdem zu Fuß unterwegs sind. In Deutschland waren vor allem die ostdeutschen Städte sehr geeignet - Chemnitz zum Beispiel.
SPIEGEL ONLINE: Gibt es eine bestimmte Sorte von Mensch, die Sie interessiert?
Jason S.: Es kommt auf den Moment an und auf die Umgebung, vielleicht auch darauf, wen wir vorher interviewt haben. Es kann ein Kleidungsstück sein, das Fahrrad, die Frisur - etwas Visuelles. Dann fängt man an, zu überlegen: Ist die Person interessant?
Lynch: Zum Beispiel Edelgard, eine ältere Frau, die wir an einem Spätnachmittag getroffen haben. Wir bogen um die Ecke, und da saß sie, genoss den Sonnenuntergang, ein ruhiger Moment, in dem sie den Tag Revue passieren lässt - das war einfach eine perfekte Situation. Die meisten Leute, die wir fragen, sind sofort einverstanden und machen mit - wenn sie richtig ausgewählt sind. Und die, die nicht zustimmen, sind offensichtlich auch die Falschen für das Projekt. Die Leute geben so viel preis von sich in diesen Interviews, dass sie wirklich bereit dazu sein müssen.
SPIEGEL ONLINE: Sie nehmen sich etwa 45 Minuten Zeit für ein Interview und machen daraus einen Clip von vier bis fünf Minuten. Viele Videos handeln von Lebensdramen, deuten die Umstände aber nur an: In einem der US-Interviews zum Beispiel spricht jemand über seine Kinder und erwähnt irgendwann: "Jetzt kann ich die ja nicht mehr sehen." Haben Sie bewusst an solchen Stellen nicht nachgefragt?
Jason S.: Das entscheiden wir nach Gefühl. Wenn du etwas, das dir das Herz gebrochen hat, mit der Welt teilen kannst, ist das natürlich ein berührender Moment. Aber wir möchten nicht alle dunklen Stellen erforschen. Wir sorgen uns um die Leute, wir wollen sie nicht ausbeuten. Viele Leute haben uns ihr Herz ausgeschüttet - manchmal hat es sich so angefühlt, als hätten sie nur auf uns gewartet. Für viele war es eine kathartische Erfahrung. Es gab niemanden, der danach gesagt hat: Oh, das hätte ich lieber nicht machen wollen.
Lynch: Natürlich gibt es keine Grenze - man kann mit jedem stundenlang sprechen. Aber wir haben eine klare Struktur: Wir haben eine Dreiviertelstunde, und wir wollen das, was wir in diesem Rahmen bekommen können.
SPIEGEL ONLINE: Haben die vielen Bekenntnis- und Selbstdarstellungsformate im Fernsehen die Menschen offener oder verschlossener für so ein eher leises Projekt gemacht?
Lynch: Bei uns geht es nur darum, dass die Leute so sind, wie sie eben sind. Sie sollen ehrlich vor der Kamera sein und werden nicht dazu gedrängt, alle ihre Traumata herauszuposaunen. Natürlich kommt persönliche Not vor, viele der Interviewten sprechen darüber. Aber nicht, weil wir das aus ihnen herauslocken wollten, sondern weil sie ehrlich waren.
Jason S.: Um es mit einem Bild zu sagen: Wir legen unser Netz aus und verfrachten damit einen Fisch für eine gewisse Zeit in ein ruhiges, angenehmes Wasserbecken, dann kommt er zurück in den Strom. Darum geht es. Wir sind nicht flashy. Und wir wollen auch nicht flashy sein.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie die Fragen schon mal an sich selbst ausprobiert?
Lynch: Nicht vor der Kamera. Wir sind einfach nicht die Leute dafür!
Das Interview führte Christoph Twickel
David Lynch presents: Interview Project Germany. Dokumentar-Filmprojekt von Austin Lynch und Jason S.. Im Februar 2011 werden die einzelnen Interviews nach und nach online gestellt. Über ihre Reise berichten die Filmemacher in ihrem Blog .