Demokratie im Ausnahmezustand Die verhüllte Freiheitsstatue
Die Nachricht wirkte aufreizend. Der amerikanische Präsident ließ Wladimir Putin über die Medien ausrichten, er müsse sich auch in Zeiten des Terrors an die Regeln der Demokratie halten. Er dürfe die Gewaltenteilung nicht aushöhlen. George W. Bush zeigte sich besorgt, weil der russische Präsident nach dem Massaker in Beslan angekündigt hatte, die "Machtvertikale", also seine Befugnisse, auszubauen.
Ausgerechnet Bush. Hatte er nicht selbst nach dem 11. September 2001 eine neue Zeitrechnung begonnen?
Seither regiert in Washington ein Warlord, der im "Krieg gegen das Böse" erklärtermaßen "alte Regeln" nicht mehr gelten lässt. Alle Bindungen an Recht und Gesetz stehen unter Kriegsvorbehalt. Er präsentiert sich als Oberkommandeur der Armee, kraft "military order" setzt er Völkerrecht und Freiheitsgarantien außer Kraft, "Military Commissions" ersetzen Gerichte. Im Namen der Nationalen Sicherheit genießt der US-Präsident - nach Lesart seiner Juristen - uneingeschränkte Macht.
Zivile Diktatur oder Militärdemokratie?
Zivile Diktatur oder Militärdemokratie? Die Grenzen zwischen den Systemen von Bush und Putin, so scheint es, verschwimmen. Das oberste amerikanische Gericht warnte bereits, auch der Kriegszustand sei kein Blankoscheck für den Präsidenten. Aber "in einer anarchischen Hobbes'schen Welt", erklärt Robert Kagan, einer der neo-konservativen Vordenker, sei auf internationale Regeln "kein Verlass".
Verbindlich bleibt für die Bush-Regierung daher nur, was nationalen Interessen dient, und dafür beansprucht sie die alleinige Definitionsmacht. Terror heißt in neuer folgenträchtiger Deutung Krieg. Als oberster Kriegsherr entscheidet also der Präsident, dass die Gefangenen in Guantánamo Bay und in Abu Ghuraib rechtlos sind. Er lässt Gutachten anfertigen, die das Foltern erlauben, und auch der Präventivkrieg gegen den Irak ist legal. Denn er dient der Selbstverteidigung und, darüber hinaus, dem Wohl der Menschheit.
Genau so ist es, assistiert Kriegskamerad Tony Blair. Als "ethischen Imperialismus" lobt er das Selbstverständnis der Supermacht. Aber anders als der britische Premier empfinden es Kritiker gerade in Europa als dramatisch, wie Demokratie und Rechtsstaat teilweise ausgemustert werden. Sie sind alarmiert über den fundamentalen Wandel. Lange nicht mehr ist ein amerikanischer Präsident in weiten Teilen der Welt so zum Feindbild geworden.
Düstere Sicht auf die westliche Gesellschaft
Der kürzlich verstorbene französische Philosoph Jacques Derrida erklärte Bushs Amerika zum "Schurkenstaat". Sollte Bush wiedergewählt werden, verkündet der deutsche Regisseur Wim Wenders, der so manchen Film über das Land seiner frühen Begeisterung gedreht hat, "habe ich da nichts mehr verloren". Für Jürgen Habermas, den renommierten Seismographen gesellschaftlicher Tendenzen, hat der "hegemoniale Unilateralismus" geradezu den Charakter einer "revolutionären Umorientierung", die noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen sei.
Als Großkritiker hat sich noch ein anderer, ein italienischer Philosoph mit furiosen Deutungen hervorgetan: Giorgio Agamben. In seinen Büchern (u.a. "Ausnahmezustand", ""Homo sacer"), die zum Teil schon vor dem 11. September erschienen sind, liefert er den "Generalschlüssel" ("Die Zeit") für eine historische Zäsur. Er eröffnet eine düstere Sicht auf die westliche Gesellschaft.
Amerika ist zwar nicht sein Hauptthema. Aber die Lektüre hilft - gerade wegen Agambens bisweilen atemberaubenden Zuspitzungen -, das Bush-System besser zu begreifen. So entsteht ein erschreckendes Bild der Supermacht. Es wird auch verständlich, warum die USA gerade den Deutschen, die sich als friedliche Musterdemokraten verstehen, fremd geworden sind.
Demokratie im Niedergang?
Die schmalen, im Suhrkamp Verlag erschienenen Agamben-Bändchen, teilweise erst nach einiger Verzögerung ins Deutsche übertragen, rechnet die "FAZ" zu den Büchern, "die alles umstürzen, desillusionierend, illusionslos und von gnadenloser Konsequenz". Scharfsinnig entwickelt Agamben seine Analysen aus dem römischen Recht und aus den Schriften des berüchtigten NS-Staatsrechtlers Carl Schmitt ("Wir denken die Rechtbegriffe um"). Er versucht einen historischen Prozess zu deuten, der unter Bushs Präsidentschaft krass zutage tritt, der aber weit zurück und darüber hinaus reicht.
Seine schockierende These: Zwischen Demokratie und Totalitarismus besteht "innerste Solidarität". Nazismus und Faschismus bleiben "bedrohlich aktuell". Die Demokratie ist im "Niedergang" begriffen.
Inspiriert von Schmitt, hat Agamben den "Ausnahmezustand", den Rückfall in einen Zustand außerhalb geltender Ordnungen, als das "verborgene Fundament" der Gegenwart ausgegraben. Bis in die amerikanische Geschichte des 19. Jahrhunderts verfolgt er die Tradition zurück. Aber: "Der Ausnahmezustand hat heute erst seine weltweit größte Ausdehnung erreicht."
"Vertrauen Sie der Exekutive"
Während allenthalben der Zerfall von Staaten der Dritten Welt beklagt wird, richtet der Philosoph aus Verona den Blick auf eine andere, vielleicht noch größere Gefahr: Auch in westlichen Demokratien sind die staatlichen Strukturen in einen "Prozess der Auflösung geraten", so Agamben. Im "Krieg" gegen den Terror ist Notstand als Grundlage des Ausnahmezustandes "zur Regel geworden".
Aber in ihrer westlichen Form endet die Auflösung nicht im Chaos. Die staatliche Gewalt werde vielmehr in schleichendem Wandel immer stärker von den Regierenden usurpiert. "Vertrauen Sie der Exekutive", verteidigte das US-Justizministerium in aller Unschuld die "military order" des Präsidenten vor dem obersten Gerichtshofs der USA. In Zeiten des Terrors scheint Gewaltenteilung überholt, nicht nur in Russland.
Der gelernte Jurist Agamben leitet dieses Denken ab aus dem römischen Recht: Wer die Sicherheit der Republik bedrohte, konnte zum öffentlichen Feind erklärt werden. Als "homo sacer" war er rechtlos, "auf das nackte Leben reduziert" - und konnte getötet werden.
In neuzeitlichen Verfassungen ist der Notfall keineswegs immer geregelt. "Kriegs-Metaphern" (Agamben) müssen als Ersatz herhalten. So habe sich bereits Abraham Lincoln im Bürgerkrieg mit Internierungsbefehlen über die Verfassung hinweg gesetzt. In Deutschland wurden während des Ersten Weltkriegs die Rechte des Parlaments unterwandert und die Regierungsgewalt systematisch erweitert. In der Zeit der Weimarer Verfassung konnte dann der Verfassungs-Artikel 48 regelmäßig genutzt werden, um Notverordnungen zu erlassen - unter anderem, um Tausende Kommunisten einzusperren.
Beispiellose Ausweitung des Sicherheitsparadigmas
Giorgio Agamben zieht die Parallelen bis hinein in die heutige Zeit. "In allen westlichen Demokratien", so sein Kernsatz, "wird die Erklärung des Ausnahmezustands ersetzt durch eine beispiellose Ausweitung des Sicherheitsparadigmas als normale Technik des Regierens" - mit Sondervollmachten oder ohne.
Der "Patriot Act", nach dem 11. September in Kraft gesetzt, erlaubt dem Generalbundesanwalt der USA, jeden "in Gewahrsam zu nehmen", der in Verdacht gerät, die nationale Sicherheit zu gefährden. Immerhin gilt für ihn die Strafprozessordnung. Bushs "military order" aber macht die Gefangenen in Guantánamo zu "juristisch nicht benennbaren Wesen", so Agamben. Sie hätten, wie die Juden im KZ, "jede rechtliche Identität verloren".
Der radikale Kritiker schätzt die zuweilen abstrus anmutenden Vergleiche mit dem Nazi-Regime, aber nur, um staatliche "Strukturen" der Gegenwart zu erhellen, nicht, um das Bush-Regime als wieder erstandenen NS-Staat zu entlarven. Und natürlich weiß auch Agamben: Die Häftlinge in den orangen Overalls leben nicht wie Todgeweihte in einem Vernichtungslager. Agambens Argumente wären allerdings weniger beunruhigend, wenn es die Bush-Regierung als Anschauungsmaterial nicht gäbe.
Denn Guantánamo ist nicht nur der Opfer wegen zum unvorhersehbaren Paradefall einer modernen Version des Ausnahmezustands geworden, vielmehr auch wegen der Urheber: Die Gefangenen-Exklave auf Kuba wurde ohne gesetzliche Grundlage errichtet. Es genügte eine militärische Anordnung - wie damals "der Befehl des Führers als unmittelbare Quelle des Rechts", so der Schmitt-Kenner Agamben in Anlehnung an seinen Gewährsmann.
Die obszönen Videos aus dem Gefängnis im irakischen Abu Ghuraib illustrieren auf andere Weise drastisch die homo-sacer-Theorie. Der nackte Häftling an der Hundeleine erinnert fatal an schaurige Bilder von KZ-Insassen, die im Lagerjargon "Muselmanen" hießen. Gedemütigt waren sie "nicht mehr Teil der Menschenwelt", so Agamben, und "nicht mehr in der Lage, zwischen dem Biss der Kälte und der Grausamkeit der SS zu unterscheiden".
Das Lager als Ausnahmezustand
Das Lager als Ausnahmezustand gilt es aber nicht nur in solchen Extremen sondern "in seinen Metamorphosen und Maskierungen" als "verborgenes Paradigma der Moderne" zu erkennen, schreibt Agamben. "Im Herzen des Rechtsstaats", konstatiert er bitterböse, sind nicht die Werte des antiken Athen lebendig, "sondern Auschwitz".
Solche Urteile wirken provozierend, absurd und auch empörend. Die Vergleiche mit Hitlers Terrorherrschaft lassen leicht die Einzigartigkeit der damaligen staatlichen Mordmaschinerie aus dem Blick geraten. Agamben versteht sie als didaktischen Griff, um "Strukturen" bloß zu legen, so auch, wenn er das NS-System als "Doppelstaat" beschreibt und Parallelen andeutet. Die Weimarer Verfassung wurde nie ganz außer Kraft gesetzt, stellt er fest. Sie blieb 12 Jahre lang als staatliche Hülle erhalten. Aber "der Führer" herrschte in einem Ausnahmezustand, gestützt auf seine nationalsozialistische Partei.
Noch ist ungewiss, ob nach dem zweiten November das "Regime des Kriegspräsidenten" (Habermas) erhalten bleibt, egal wer die Wahl gewinnt. John Kerry hat noch keineswegs erkennen lassen, ob er das System beseitigen würde, das Carl Schmitt seinerzeit so beschrieb, als hätte er an das Symbol im Hafen von New York gedacht: "Die Statue der Freiheit oder der Gerechtigkeit wird für eine bestimmte Zeit verhüllt."