Georg Diez

S.P.O.N. - Der Kritiker Mit Neugier das Alte anzweifeln

Vergesst das Gerede von lügenden Politikern und Königsmorden, nach der Brexit-Abstimmung müssen wir uns auf etwas viel Wichtigeres konzentrieren: Wir müssen Demokratie von Grund auf neu denken.
Tory-Parteichefkandidat Michael Gove und Ehefrau Sarah Vine

Tory-Parteichefkandidat Michael Gove und Ehefrau Sarah Vine

Foto: Jack Taylor/ Getty Images

"The birds they sang
at the break of day
Start again
I heard them say
Don't dwell on what
has passed away
or what is yet to be."

So beginnt der Song "Anthem" von Leonard Cohen, eine Hymne an das Neue, das gegen die Widerstände entsteht, gegen Krieg, durch Krieg, gegen die "killer in high places", durch die "killer in high places".

"Ring the bells that still can ring
Forget your perfect offering
There is a crack in everything
That's how the light gets in."

Das Neue, das immer dann entsteht, wenn etwas zu Ende geht. Nur wenn etwas zerbricht, kann das Neue entstehen. Nur durch die Sprünge, die Risse, die Öffnungen, die mal zufällig, mal gewollt, mal gewaltsam entstehen, dringt das Licht hinein. Leonard Cohen ist Fatalist, er rechnet, wenn es um Menschen geht, mit dem Schlimmsten - und hat dennoch die Hoffnung nicht aufgegeben. Im Gegenteil: Er feiert die Zerstörung, weil er weiß, dass sie eine Chance birgt, die einzige Chance womöglich.

Das war auch die Stimmung in dieser Woche nach dem Brexit: Selten war die Verstörung so groß, selten aber auch waren die Antworten so offen, war das Nachdenken so grundsätzlich, war der Mut so notwendig. Alles muss neu überdacht werden, das war das Verbindende vieler Essays und Analysen der vergangenen Tage - das Alte hat so offensichtlich versagt, der Sprung, der Brexit heißt, ist nicht zu übersehen.

Und es geht dabei gar nicht so sehr um lügende Politiker, obwohl Boris Johnson schon eine "F***e ohne Rückgrat" ist, wie Ewan McGregor gesagt hat. Es geht auch nicht um die Königsmorde wie bei Shakespeare oder um den Cäsarenwahn der herrschenden EU, wo manche - siehe Jean-Claude Juncker und Ceta - auf den Mangel an Demokratie mit dem weiteren Abbau der Demokratie antworten wollen.

Kein Sportwettbewerb, kein Gladiatorenduell

Es geht um viel grundsätzlichere Fragen, und das ist gut so. Wir sollten diesen Zustand wachhalten, wir sollten die Sprünge im Gefüge der Dinge offenlassen, wir sollten diesen Moment nutzen, um all das anzuzweifeln, was bislang galt.

Das ist zuerst einmal ein Gedankenexperiment - es ist aber gleichzeitig viel mehr, denn um die Zustände zu verändern, muss man sie erst einmal neu denken. Wer sagt denn, dass alles so sein muss? Der Brexit etwa - und auch die österreichische Präsidentenwahl, die nun wiederholt wird - hat gezeigt, zu welch bizarren Ergebnissen und Verwerfungen es führen kann, wenn die Mehrheit entscheidet, egal wie knapp, winner takes all.

Wir sind hier ja nicht beim Sport und auch nicht bei Gladiatorenkämpfen, es muss keinen "Sieger" geben und auch keinen "Verlierer" - es muss darum gehen, einen anderen Prozess zu finden als diesen so offensichtlich dysfunktionalen.

Massenweise Geld vernichtet, Rassismus angefacht, Karrieren zerstört, jahrelange Unsicherheit produziert, Streit in Familien getragen, Lebensumstände verunsichert - wenn das der Preis ist für solch eine knappe Entscheidung, wie sinnvoll ist dieses Mehrheitsprinzip dann überhaupt? Ist Mehrheit also ein Fetisch, eine Art demokratische Magie? Geht es darum, dass entschieden wird?

Oder geht es darum, was entschieden wird - und wie ein größtmöglicher Teil der Gesellschaft damit gut leben kann? Mir scheint, dass man hier falsch herum an die Sache herangeht - und die Folgen sind nicht eine bessere, stabilere Demokratie, sondern eine beschädigte, scheppernde Demokratie.

Losen statt wählen

Muss man also nicht andere, sanftere Wege finden, zu Entscheidungen zu kommen, als einen rigiden Rein-Raus-Dezisionismus? Die Welt ist schwierig und komplex, wie soll man da mit einfachen Ja-Nein-Antworten hantieren? Es ist ein kindisches Schauspiel, das die englischen Konservativen abliefern, deren Legitimität zerdeppert ist - aber es ist auch ein kindischer Mechanismus, der eine so fundamentale Frage einer solchen Willkür aussetzt.

David Van Reybrouck hat das in einem der eindrucksvollsten Essays der vergangenen Woche so beschrieben : "Eine Ära, in der das Interesse an Politik steigt, aber der Glaube an die Politik sinkt, ist explosiv." Er plädiert für andere Wahlmechanismen, die mehr den Anforderungen unserer Zeit genügen, dieser Epoche der schnellen, dezentralen Kommunikation - die Fragen, könnte man es zusammenfassen, sind aus dem 21. Jahrhundert, die Antworten aus dem 18. Jahrhundert.

"Stellen Sie vor, Sie müssten heute ein System entwickeln, das den Willen der Bevölkerung ausdrücken hilft", schreibt Van Reybrouck. "Wäre es wirklich eine gute Idee, dass sich alle vier oder fünf Jahre alle in Schlangen vor Wahllokalen anstellen, ein Papier in der Hand, und in eine dunkle Kabine gehen, wo sie ihr Kreuz neben einen Namen auf einer Liste setzen müssen, Namen von Menschen, über die seit Monaten atemlos berichtet wurde in einer wirtschaftlichen Umgebung, die von der Atemlosigkeit profitiert?"

Seine Beispiele für gelungene Lösungen kommen aus der Geschichte, die Demokratie von Athen, wo die wichtigsten Funktionen nicht per Wahl, sondern per Los zugewiesen wurden; sie kommen aber auch aus der Gegenwart, Irland zum Beispiel, wo eine Mischung von gewählten und zufällig ausgelosten Iren 2012 eine Verfassungsversammlung bildeten.

Was wäre wohl, fragt er, wenn diese Methode in Großbritannien angewandt worden wäre? Wären die gewählten und gelosten Briten in ihren Gesprächen zu dem gleichen Ergebnis gekommen? Oder zu einem anderen? Wäre das besser gewesen oder schlechter? Hätte es größeren Schaden gegeben oder weniger großen? Die Zeiten sind kompliziert, also müssen auch die Verfahren zur Entscheidungsfindung diese Komplexität reflektieren, sie müssen ihre Stabilität und Legitimität durch Breite und durch Flexibilität erreichen, sie müssen Partizipation dauerhaft möglich machen.

Ist das Populismus? Ach, auch dieses Wort zeigt doch nur: Die Begriffe passen nicht mehr zur Realität.

Oder wie es Leonard Cohen sagt:

"I can't run no more
with that lawless crowd
while the killers in high places
say their prayers out loud."

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