
Der Fall Fritzl im Theater: Puppe in der Unterwelt
Der Fall Fritzl im Theater Verlassen im Verlies
Der Beginn dieses Abends wirkt wie ein Schlag ins Gesicht. Die Wand fährt hoch, und dahinter ist: wieder eine Wand. Kein Raum, keine Perspektive, kein Ausweg. Nur eine massive, bühnenhohe schmutzige Ziegelsteinwand, die die Bühnenbildnerin Muriel Gerstner dem Publikum im Münchner Cuvilliés-Theater, einer Spielstätte des Residenztheaters, direkt vor die Nase gesetzt hat. In dieses düstere Gemäuer sind zwei Hohlräume eingelassen, schwarze, von wuchtigen Steinen eingefasste Löcher. Ein Verlies, über dem die Rätselformel zu lesen ist: "Gewesen worden sein".
Im rechten Loch sitzt reglos wie eine Porzellanpuppe Birgit Minichmayr, eine bleiche Gestalt im hellen Kleid, ausgeleuchtet wie ein wertvolles, aber lebloses Ausstellungsstück. Den linken Raum erobert sich der Schauspieler Oliver Nägele, der sich erst lässig in den Rahmen seines Fensters lehnt und schon bald seinen massigen Körper bäuchlings auf dem Boden wälzt, als wolle er darunter jemanden zerquetschen.
Das Stück, das die beiden hier spielen, ist Elfriede Jelineks "FaustIn and out", eine wortmächtige Auseinandersetzung mit dem Verbrechen des Österreichers Josef Fritzl, der seine Tochter Elisabeth 24 Jahre lang im Keller unter seinem Haus gefangen hielt und mit ihr sieben Kinder zeugte. Zugleich ist es auch ein frei assoziierter Kommentar zu Goethes "Urfaust", Jelinek selbst hat dafür die Bezeichnung "Sekundärdrama" gefunden.
Gespielt werden soll es nur in Verbindung mit einer "Faust"-Inszenierung am selben Haus; der Residenztheater-Intendant Martin Kusej hat mit seiner eigenen "Faust"-Inszenierung Anfang Juni die Voraussetzung dafür geschaffen und ließ jetzt, einer ungewöhnlichen Kooperationsvereinbarung zwischen beiden Häusern folgend, den Chef der Münchner Kammerspiele Johan Simons als Gast bei sich "FaustIn and out" inszenieren.
Der Text gehört zu den stärkeren Theatertexten der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek aus der letzten Zeit - vor allem in dieser ganz auf die Fritzl-Geschichte konzentrierten Spielfassung ihrer wie immer ausufernden Textfläche (Dramaturgie Sebastian Huber). Fritzls monströse Tat hat Jelinek schon öfter beschäftigt, etwa in dem Stück "Tod-Krank.Doc", das im Jahr 2013 in Bremen uraufgeführt wurde.
Offensichtliche Parallelen zwischen Gretchen und Elisabeth Fritzl
Oliver Nägele spielt in der Münchner Inszenierung den/die "GeistIn", jene Figur, die bei Jelinek eine Mischung aus Josef Fritzl/Faust beziehungsweise seinem Einflüsterer Mephisto und dem Frauenunterdrücker schlechthin ist. Im Smoking, der Uniform des selbstherrlichen Mannes von Welt, beginnt er sich zu rechtfertigen, warum er die Tochter einsperren musste, und jammert über die angebliche Dominanz der Frauen. Empörung ist in seiner Stimme, Überforderung, dann wieder kalte Dominanz, wenn er von Fausts Zitat "Name ist Schall und Rauch" sofort bei dem Kind ist, das gleich nach der Geburt gestorben ist. Bei dem Kind, dessen Leiche er (wie Fritzl) verbrannt hat: "Kein Name, kein Schall, nur Rauch."
Minichmayr als "FaustIn", die aber vor allem Elisabeth Fritzl und das Gretchen in ihrer Figur vereinigt, hört ihm reglos zu, bevor sie nach einer halben Stunde zum ersten Mal selbst spricht, stockend und zögernd zuerst, emotionslos, wie ein lange nicht in Betrieb gewesener Automat. Starr sitzt sie in ihrer Höhle und scheint zu einem winzigen unsichtbaren Alter Ego zu sprechen, das vor ihr auf dem Boden kauert. Ein Rest von Stolz und Trotz - eigentlich typische Zutaten von Minichmayr-Figuren - meint man bei aller Resignation in ihrer Stimme durchzuhören. Sie trägt einen Burgfräulein-Rapunzel-Look, dazu rosa Schleifen an den Schultern wie eine moderne, kitschig ausstaffierte Puppe. Die Haare und die Haut sind bleich, farblos, wie bei einem Wesen, das in jahrelanger Lichtlosigkeit alle Pigmente verloren hat (Kostüme: Anja Rabes).
Die Parallelen zwischen Gretchen und Elisabeth Fritzl werden offensichtlich - beide sitzen im Kerker, beide haben ein Kind verloren, bei beiden war der Wille des Mannes übermächtig. Aber die Ausstattung verweist darauf, dass ihr Schicksal zeitlos ist. "Persephone-Weg" steht ganz oben an der Mauer - Persephone war, so sagt es das Online-Lexikon, die Göttin der Toten, der Unterwelt und der Fruchtbarkeit. Gruselige Mischung. Sie wurde ebenfalls von ihrem Vater (Zeus) geschwängert.
Jedes Detail stimmt in dieser Inszenierung, auch das "Gewesen worden sein" über den Portalen in der Wand ergibt auf den zweiten Blick Sinn: Es ist eine grammatikalische Form von "Sein" im Futur II, Passiv, Konjunktiv. Eine Form, die im normalen Leben keine Anwendung findet, für ein Dasein wie das von Elisabeth Fritzl aber passt: Die aktive Gegenwart wird ausgeschlossen.
Am Ende dringt Oliver Nägeles Figur in die Höhle von Birgit Minichmayr ein - er kann seinen Raum verlassen, sie ihren natürlich nicht. Aber sie hat ihre Schleifenbluse abgelegt, die schimmernde Korsage, die sie darunter trägt, hat etwas Wehrhaftes, und sie kauert nicht mehr, sie steht jetzt. Noch ist sie sich mit ihrem Vater einig, dass er Gott ist. Aber sie wirkt, als könne sie die Zeit danach überleben.
Am Ende starker Applaus für einen beklemmenden, konzentrierten, dichten Abend mit überragenden Schauspielern.
FaustIn and out. Wieder am 4., 12. und 16.7. im Münchner Cuvilliés-Theater, Tel. 089/21851940, www.residenztheater.de .