Deutsche Einheit Was nach dem Woodstock-Gefühl kam

Von Thomas Brussig
Die Wende war ein romantisches Ereignis, die Einheit aber wurde für uns Ostdeutsche eine Einübung in Kälte und Entwertung - dass dieser Frust sich heute in AfD-Wahlerfolgen entlädt, ist schlimm. Aber verwundert nicht.
DDR-Bürger vor der Deutschen Botschaft in Prag 1989

DDR-Bürger vor der Deutschen Botschaft in Prag 1989

Foto: Dieter Endlicher/ stf/ FRU/ AP
Zur Person
Foto: Jens Kalaene/ DPA

Thomas Brussig, 1964 in Ost-Berlin geboren, hatte 1995 seinen Durchbruch mit dem Roman "Helden wie wir". Brussigs Bücher wurden in 30 Sprachen übersetzt. Er erreichte sowohl mit seinem literarischen Werk als auch mit Kinofilmen ("Sonnenallee" und "NVA" in der Regie von Leander Haußmann) und einem Bühnenwerk (dem Musical "Hinterm Horizont") ein großes Publikum. Zuletzt erschien von ihm der Roman "Beste Absichten"(2017).

Bekanntlich wird die AfD auffällig oft von ostdeutschen Männern gewählt, nicht nur von den Abgehängten, sondern auch von denen, die in gesicherten Verhältnissen leben. Um es kurz und schmerzhaft auszusprechen: Meinesgleichen wählt AfD. Wie ist es dahin gekommen? Gehen Sozialwissenschaftler dieser Frage nach, lassen sie viele Fragebögen ausfüllen. Doch ich bin Schriftsteller, deswegen spreche ich zunächst von mir.

Zwar bin ich in der DDR aufgewachsen und habe dort meine Prägungen empfangen, doch der archimedische Punkt meiner Biografie war selbstverständlich die Wende. Die DDR langweilte und nervte, aber die Wende elektrisierte. Neben 17 Monaten Wende verblassen 25 Jahre DDR. Denn wenn ich von Wende rede, dann meine ich die gesamte Wendezeit - von der ungarischen Grenzöffnung im Frühling 1989 bis zur staatlichen Einheit im Herbst 1990.

Der Mauerfall war eine Weltsekunde, zuständig für die Fernsehbilder, aber die Wende, die Implosion eines Staats-und-Herrschafts-Popanzes, war eine monatelange Reise, auf deren Stationen Angst überwunden, Freiheit erlebt und mehr als nur ein Traum wahr wurde. Die Wende war, auch und gerade wegen ihrer Gewaltfreiheit, ein rundum romantisches Ereignis. Sie hat etwas in mir hinterlassen, das jederzeit angesprochen werden kann.

Es ist geradezu unvorstellbar, dass jene, die durch die Wende geprägt wurden, heute die zuverlässigsten AfD-Wähler sind.

Auf die Wende jedoch folgte ein durch und durch unromantischer Vorgang, die staatliche Einheit. Die Nachwende war für die Ostdeutschen eine Einübung in Kälte und Konkurrenz. Sie brachte massenhafte Erfahrungen von Entwertung und von Angezweifeltwerden, von Bürokratie, Merkantilität, von Ellbogen und Egoismus. Und auch von Angst: Ungewissheit löst Angst aus, und niemand konnte damals wissen, ob der Neustart ins Leben glücken wird. Bedingt durch flächendeckende Deindustrialisierung und Institutionenabbau verloren zahllose Menschen - Facharbeiter, Ingenieure, Akademiker - ihre Arbeit (und viele fanden keine neue).

Unzählige sahen sich mit Restitutionsansprüchen konfrontiert oder wurden, wenn sie in den entstehenden Trendvierteln der Großstädte lebten, "entmietet". All dies anzuprangern barg das Risiko, als "Jammerossi" abgestempelt zu werden, und der Generalverdacht, mit der Stasi verbandelt gewesen zu sein, gehörte damals zur deutsch-deutschen Folklore. Überhaupt hielten sich Vorurteile jeder Couleur (nicht demokratiefähig, nostalgisch, freiheitsskeptisch) äußerst hartnäckig; selbst Angela Merkels europapolitische Eignung wurde von Peer Steinbrück im Wahlkampf noch 2013 herkunftsbedingt infrage gestellt.

Wenn die Wende so was wie ein großer Blub-Badespaß war ("Wahnsinn!"), dann war die Nachwende ein Fleischwolf. Sie erteilte vielen Ostdeutschen die Lektion: Um richtige Deutsche zu werden, müsst ihr da durch. Ihr müsst diese Bürokratie wuppen, müsst diese Bewerbungsrituale mitspielen, müsst diese Rechtfertigungen und Reinwaschungen abliefern, müsst zu diesen Rücksichtslosigkeiten imstande sein. Und selbst dann ist nicht gesagt, dass ihr mitspielen dürft.

Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze 2015

Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze 2015

Foto: Florian Bachmeier/ imagebroker/ imago images

Es ist mühelos vorstellbar, dass jene, die das mitmachten, heute die zuverlässigsten AfD-Wähler sind. Denn was ist die Ablehnung der Fremden, der Flüchtlinge, der Muslime, die Abwertung derer, die hier ein neues Leben beginnen wollen, anderes als eine Reinszenierung der Nachwende-Erfahrungen? Die Lektion, die viele Ostdeutsche in der Nachwende erfuhren, wird nun jenen erteilt, die in einer ähnlichen Position sind wie die Ostdeutschen 1990 ff.

Was uns das Begrüßungsgeld war, war für euch Flüchtlinge der Empfang am Münchner Hauptbahnhof. Danach mussten wir durch den Fleischwolf, und jetzt seid ihr dran. Jetzt werdet ihr als Vergewaltiger, Schmarotzer, Terroristen beargwöhnt, wie wir seinerzeit als Ex-Stasis. Wir zeigen euch den Weg, den man gehen muss, um hierzulande anerkannt zu werden, denn wir haben ihn hinter uns, und er war nicht schön.

Und ich kann mir gut vorstellen, wie traurig oder auch wütend diese Gedanken im Westen aufgenommen werden: Da ist vom Westen so viel Geduld, Geld, Aufmerksamkeit und guter Wille in diesen heruntergewirtschafteten, umweltzerstörten, verfallenen Osten investiert worden (der Soli ist noch immer nicht abgeschafft!) - doch anstelle von Dankbarkeit, die nie kam, kommen nun auch noch in vorwurfsvollem Ton wüste Theorien, wonach die Installation dessen, was jahrzehntelang im Westen erprobt und erfolgreich war, die Rechtspopulisten im Osten auf den Weg gebracht haben soll.

Doch dieser Einwand geht an der Sache vorbei. Denn es war keinesfalls so, dass in der Nachwende Ostler ausschließlich an Westlern litten - es waren durchaus auch Ostdeutsche, die sich untereinander das Leben schwer machten und sich gegenseitig besagte Erfahrungen an Abwertung, Angezweifeltsein, Rücksichtslosigkeit und Unsicherheit bereiteten. Nichtsdestotrotz prägten diese Erfahrungen die Vorstellung davon, wie sich der Einzelne bei einem Neustart ins Leben zu fühlen habe. Es liegt in der Natur der Sache, dass die gelehrigsten Schüler der Transformation heute zu den Abgesicherten gehören.

Gewiss war der Rechtspopulismus als "missratenes Kind der Transformation" so nicht beabsichtigt - aber er ist kein Wunder wie ein brennender Busch. Mir ist in Erinnerung, dass ich etwa im Jahr 2000 mit Wolfgang Schäuble auf einem Podium irgendein Deutsche-Einheit-Thema diskutierte und sinngemäß sagte, dass der ostdeutsche Frust wohl eines Tages auf unerwarteten Pfaden auf die Tagesordnung gelangen werde. (Dabei dachte ich weniger an eine Ost-RAF, sondern glaubte, dass die Nachwende eine Art kollektive Abwertung bedeutete, die ähnlich wie - Westdeutsche mögen den Vergleich verzeihen - der Versailler Vertrag zu unguten Spät- und Nebenwirkungen führt.) Zu meiner Überraschung verstand Wolfgang Schäuble meinen Gedanken, noch ehe er ganz ausgesprochen war - vermutlich, weil er selbst schon mal auf dieselbe Idee gekommen war. Er widersprach prompt - und so leidenschaftlich wie jemand, der hofft, dass Pfeifen im Walde vielleicht doch hilft.

Dass die AfD-Popularität im Osten in den Nachwende-Erfahrungen einer bestimmten Klientel wurzelt, ist das eine. Sich als "Wende 2.0" zu etikettieren ist hingegen blanke Anmaßung der AfD. Völlige Entfremdung vom bestehenden System reicht nun mal nicht aus, um sich zum Wende-Wiedergänger, zum Wende-Erben zu erklären. Diejenigen, die 1989 auf die Straße gingen, wussten: "Wir sind die Guten!" Es ging um Freiheit und Bürgerrechte; die Gewaltlosigkeit war Konsens. Die Wende wurzelte in edlen Motiven - was die AfD nicht von sich behaupten kann. Die AfD ist die Partei der niederen Instinkte, des Ressentiments, der institutionalisierten Miesepetrigkeit - Hutbürger ("Sie haben mich ins Gesicht gefilmt!") lässt grüßen.

Der Spirit von 1989 war ein positiver, romantischer, gewaltloser, es war eine Art Woodstock, nur ohne Musik, aber mit Folgen. Wenn es eine zeitgenössische Bewegung gibt, die das 89er-Erbe für sich reklamieren könnte, dann am ehesten noch "Fridays for Future", ob ihrer utopischen Kompetenz sowie ihres ultimativen und (potenziell) mehrheitsfähigen Anliegens. Wer hingegen mit Merkel-Galgen demonstriert oder den Lübcke-Mord schönredet, der hat mit 1989 und der Wende so viel zu tun wie ein Stück Kinderschokolade mit der Extraportion Milch.

Und nur weil die AfD unverblümt an die niederen Instinkte appelliert, ist sie so erfolgreich: Auch die Linke hätte gern (schon als Linkspartei und als PDS) die Stimmen der Unzufriedenen abgeholt. Nur trommelte die Linke (und ihre Vorgängerparteien) immer auch für Verteilungsgerechtigkeit, für Solidarität mit den sozial Schwachen, für die Belange von Minderheiten und so weiter; sie befand sich zwar in einem grundsätzlichen Dissens mit den Verhältnissen, aber ihr kam nie in den Sinn, rein destruktive Geister zu rufen. Doch spätestens seit Donald Trump ist offensichtlich, dass in der heutigen Welt Hass und Ressentiment zu Wahlerfolgen führen können - und die AfD hat keine Skrupel, sich entsprechend anzubieten.

Die Wende-Wiedergänger-Anmaßung der AfD hat aber eine vertrackte psychologische Komponente, und um die zu erläutern, muss ich wieder von mir sprechen: In der Wende erlebte ich, wie ein festgefügtes, erklärtermaßen auf Ewigkeiten angelegtes System in sich zusammenfiel. Seitdem komme ich nicht umhin, alles als vorläufig zu begreifen. Im Gegensatz zu Westdeutschen, denen die freie und soziale Marktwirtschaft, der Parlamentarismus und der Föderalismus gleichsam mit der Muttermilch verabreicht wurden, kann ich mir mühelos vorstellen, dass diese Wirtschafts-, Regierungs- und Staatsform eines Tages durch was Besseres ersetzt wird, was immer das auch sein mag.

Ich weiß, dass viele Ostdeutsche ähnlich empfinden - und damit westdeutsche Verdächtigungen auf sich ziehen: Ist der Ostdeutsche nicht ein unsicherer Kantonist, wenn er das Bestehende ohne emotionale Bindung hinnimmt und nach reinen Nutzenerwägungen bewertet?

Die "Wende 2.0"-Kampagne spielt mit der Idee, dass ein überkommenes System hinweggefegt und eine Euphorie neu aufgelegt wird. Dabei ist die "Wende 2.0"-Kampagne wie ein aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat, denn das Original wandte sich, wie schon gesagt, an edle Motive. Zudem war die Wende eine erregte Zeit - und die Vermutung liegt nahe, dass die AfD auf ein Image als "Erregungspartei" setzt, weil sie dann ihre Mängel an Sachkunde (die regelmäßig in Diskussionen zu Verkehrs-, Energie-, Sozial- oder Umweltpolitik zutage treten) überdecken kann, ja, weil von einer Erregungspartei niemand umfassende Sachkenntnis erwartet.

Die Herausforderung, der die akademisch hochgerüstete Piratenpartei nicht gewachsen war, nämlich Positionen auf Politikfeldern jenseits ihres Spezialthemas zu formulieren, wird von der AfD glatt verweigert. Man ist halt "Wende 2.0" und kommt damit auch durch. Nach 30 Jahren ist die Wende bei den ostdeutschen Wählern der AfD noch immer präsent, wie es ein einschneidendes Ereignis nun mal ist - aber auch verschwommen genug, um mit allem Möglichen, auch Unpassendem, in Zusammenhang gebracht zu werden.

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