Deutsches Schauspielhaus-Premiere Wenn das Volk zum Feind wird

Henrik Ibsens Drama "Ein Volksfeind" bietet viel Aktuelles: Umweltpolitik, Wirtschaft, politische Interessenkonflikte. Jarg Patakis neue Inszenierung am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg hinterfragte Stück und Figuren – und bekam überraschende Antworten.

Und Action! Wie auf Knopfdruck kommt Leben auf die Bühne. Kleinstädter am Rande des Nervenzusammenbruchs, Kampf um Macht und Gewinn, vernünftige Argumente im Hirn, den Wirtschaftsstandort im Blick, so laufen eben noch schlafende kleine Prototypen zu zappelnder Hysterie auf. Ein Ort fürs Plakative: Wohlfeil fächert Henrik Ibsens Drama "Ein Volksfeind" so viel politische und gesellschaftliche Relevanz auf, wie eine Inszenierung aushält – das könnte vor lauter Aktualitätsbezug schon mal im pädagogischen Sumpf untergehen. Wie man diesen Absturz vermeiden kann, zeigte die neue Inszenierung des Stückes am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg.

Der Schweizer Regisseur Jarg Pataki, Jahrgang 1962, nahm seinen Ibsen ernst, ohne ihn zeitgeistig zu kostümieren. Die Story vom aufrechten Badearzt Tomas Stockmann, der in seiner Heimatstadt bedrohliche Verunreinigungen des vermeintlichen Heilwassers entdeckt und publik macht, bildet die klassische Einer-gegen-alle-Situation ab. Wirtschaftliche Interessen gegen Recht und Wahrheit, Gewinn und Arbeitsplätze über alles, auch auf Kosten der Gesundheit. Eine Gesellschaft läuft Sturm gegen den Nestbeschmutzer: Alles klar? Für Regisseur Pataki nicht unbedingt.

Das Pathos und die Emotionalität, die alle Figuren des Stückes umweht, bürstet Pataki gegen den Strich. Er betont mit prägnanter Personenregie die holzschnittartigen Züge der Charaktere, lässt sie erstarren, wenn die Szene zu Ende ist, schickt sie schlafen oder stellt sie einfach gegen die Wand. Viel Kabarett ist im Spiel, viel Rampentheater, viel allzu drastisches Aufsagen, aber dadurch fließt die Handlung wildwasserartig durch die Szenen. Die gehen mittels schlichter, aber effizienter Lichtregie (Anette ter Meulen) nahtlos ineinander über, der Sog des Verhängnisses über der Stadt und den Menschen gewinnt so schnell an Fahrt.

Keine Flucht in Besserwisserei

Pataki stellt das Stück auf die Probe, hinterfragt und testet die Figuren, gibt sie auch mal ein wenig denunziatorisch ihrer eigenen Lächerlichkeit und Banalität preis: Doch Ibsens Lehrstück über Opportunismus und Charakter hält das aus. Nichts wäre peinlicher als pädagogisch-besserwisserische Überheblichkeit, in die sich der Zuschauer angesichts der Szenerie wohlig flüchten konnte. Diese ironische Distanz schafft Pataki – und schlägt im zweiten Teil seiner Inszenierung umso ernsthafter zu.

Alles in die grüne Tonne treten: Die ganze Welt der Kleinbürger, alles Bühnenmobiliar rollt in eine große, grasige Rasennarbe zusammen, die menetekelartig über allen schwebt. Was für ein kräftiges Bild, unter dem Einzelkämpfer Stockmann seine große, eitle Rede ans Volk hält. Kampf bis zum Untergang, das ist irgendwo seine Parole, und sein Ekel vor der Welt bekommt fratzenhafte, bigotte Züge. Das Volk wird dem Weltverbesserer zum Feind: "Die Mehrheit, diese kompakte Majorität" ist Ziel seiner Attacke – ein Mann in der Falle.

Die anderen sind längst zu einer amorphen Masse von wilden Tieren mutiert, die in schwarzer Unterwäsche den Volksfeind umkreisen. Jetzt erst gewinnt bei Pataki Ibsen Stück die bis dahin sorgsam vermiedene Tiefe, als auch der Held an düstere, endzeitliche Wege geführt wird: Samuel Weis, der dem eifrigen Stockmann zunächst burleske Züge gab und gerade im Wandel großartig darstellt, füllt mit seinem Monolog tatsächlich die riesige Schauspielhausbühne – ohne viel Tricks, nur mit einem Spotlight unterstützt. Ideologie, große Worte und hohles Pathos als existentielle Gefahr bildlich und verbal mit einfachen Mitteln erfahrbar gemacht, das drehte die gesamte Aufführung überzeugend von Satire und Kabarett in die böse Parabel zurück. Und der knappe Schluss passte umso besser: Stockmanns Sohn fordert seinen Vater auf, nicht abzuhauen, sondern handelnd dazubleiben. Nicht Reden schreiben, sondern anzupacken. Abrupt, aber überzeugend ins Ziel gebracht.

Neben Samuel Weiss agierte Tim Grobe als skrupelloser Realpolitiker und Bruder des Arztes sehr wirksam und überzeugend, wie Katja Danowski als wetterwendische Bedenkträgerin eine ausdrucksvolle Arztgattin und Mutter gab. Jürgen Uter (Druckereibesitzer Aslaksen) und Daniel Wahl (Redakteur Hovstadt) flankieren präzise, doch ihnen bleibt in dieser Inszenierung nur die Typenpflege. Am Schluss gab’s sehr freundlichen Beifall für Darsteller und Regieteam – ein weiteres Mal scheint sich zu bestätigen, dass es am Hamburger Schauspielhaus aufwärts geht. Nach dem "Marat"-Eklat und nun dem Ibsen scheint sich mal wieder zu bestätigen, dass man mit gesellschaftlicher Relevanz eher punkten kann als mit abgehobener Poesie.

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