Deutsches Theater Berlin Schnitzel vom Sandmännchen

Im Auftrag des Deutschen Theaters schrieb die Berliner Autorin Jenny Erpenbeck ein poetisch-assoziatives Stück über ostdeutsche Befindlichkeiten und den Umgang mit der Freiheit nach der Wende. Bei der Premiere in den Kammerspielen ernteten die "Leibesübungen für eine Sünderin" Buh- und Bravorufe zugleich.
Von Johanna Straub

Um es gleich vorwegzunehmen: Es gibt nicht nur eine Sünderin in diesem Stück und die Leibesübungen beziehen sich vor allem auf die Psyche, denn der gemeinsame Besenritt in der Walpurgisnacht, der dem von Peter Wittenberg inszenierten als Setting dient, wird vor allem ein Ritt in die eigene Vergangenheit. Natürlich. "Kann man seine Vergangenheit negieren, wenn man noch eine Zukunft haben will?" steht auch in der Zitatensammlung im Programmheft. Kann man nicht, das weiß man, und wartet gespannt was da für "Gedanken über Deutschland" kommen mögen.

Viele Personen bevölkern die Bühne, die anfangs aus einem beklemmenden Wohnzimmerschlauch besteht. Sich nach hinten verjüngend, Wände, Boden und Decke aus demselben Stoff. Die "Frau", Hauptsünderin im Stück, erhält Besuch von ihrer buckligen Schwester und deren blindem Mann. Dazu kommen noch einige ungebetene Gäste, die Besucherin, die Bedienung, und die beiden Hundefrauen mit dem Hund. Der Hund trägt ein Halsband und einen braunen Samtanzug und steckt der Frau sofort seinen Kopf zwischen die Beine. Wer gerade nicht redet, steht dekorativ in der Gegend herum. Alle sind ziemlich blass und als die Schwester ihren Schuh auszieht und das Schild präsentiert, das an ihrem großen Zeh baumelt, ist klar, was hier gespielt wird.

"Ich habe einen Pass mitgebracht. Statt Blumen." - "Ach, der ist aber hübsch". Die Frau hat Dreck am Stecken und jetzt wird abgerechnet. Ihre Tochter wollte raus, beziehungsweise rüber, die Frau hat es verhindert und kurze Zeit später hing die Tochter tot im Kirschbaum im Garten der buckligen Schwester, "wie eine Kirsche, nur nicht so lebendig". Aha. Des weiteren hat die Frau, wie sich dem aufmerksamen Theaterbesucher im Laufe der Nacht über diverse Andeutungen erschließt, ihren Mann bespitzelt und ihre Schwester gequält, die schon als Kind ein Rückenproblem hatte und im Gipsbett liegen musste. "Das rosarote Kleid anziehen und dann extra nicht tanzen gehen, bloß um mir zu zeigen, was Freiheit ist."

Dann wird aufgetischt. Für die Vitamine in "lichtarmen Zeiten" gibt es Salat - "Das ist ja gar kein Salat! Das ist ja der Wald, der gestern noch vor meiner Tür wuchs! Der ganze Wald in einer Schüssel" und dann einen "Teufelsbraten", der die Frau an etwas erinnert und sich dann als die Tochter herausstellt. Von einer "Wiedergeburt als Braten" handelt dann auch das Tischgespräch.

Für den Verdauungsritt senkt sich ein Besen von der Theaterdecke, das ist das erste Mal noch sehr hübsch. Nacheinander werden drei Stationen angeflogen, "Walpurgisnacht heutzutage ist harte Arbeit". Ein Büro - "Wenn die Ordnung ein Loch hat, dann ist das der Anfang vom Ende"- , ein winziges Wohnzimmer, in dem kollektiv ein bisschen getrauert wird, und ein Garten, in dem kurz die Diskussion entbrennt, ob die bucklige Schwester mit ihrer Gartenarbeit der Gesellschaft nützt oder nicht. Immerhin wird jetzt klar, warum die Schwester die ganze Zeit eine Gießkanne dabei hat. Zwischendurch blitzt immer wieder Systemkritik auf, am alten, selbstredend, und der Blinde reißt Blindenwitze, auf dem Niveau von "da geht's Ihnen wie mir", wenn jemand sagt, dass er nichts sehen kann.

Als zweite Übung folgt ein Gang durch den Salat, äh, durch den Wald. Aus dem Boden wachsen vier Luftkissensäulen aus dem selben Material wie das Wohnzimmer aus dem ersten Bild. Hier findet ein groteskes Gewinnspiel statt, bei dem alle mitmachen wollen, aber niemand weiß, warum. Statt freier Natur gibt's eben auch hier Anweisungen und Regeln und so. Es ist eine Art Schnitzeljagd - die Schnitzel hat vorher das Sandmännchen verstreut - mit Verlosung (wobei es originellerweise nur ein Los gibt), versuchter Vergewaltigung und Granaten-Weitwurf mit einer Überlebensgarantie ab 15 Meter. Ob der Preis wirklich eine Waschmaschine "mit Fenster" ist, "spannender als Fernsehen, aber verrenken sie sich nicht den Hals", erfährt die Frau nicht, dafür findet sie ihre Tochter, die aus dem Waldboden wächst wie ein Pilz. Abstieg vom Braten zur Beilage, so schnell kann es gehen, das Nirvana ist noch weit entfernt.

Zum Schluss sitzen sie alle am Pool und trinken Getränke mit Schirmchen. Die Frau, jetzt im rosa Bademantel (wie war das doch gleich mit der Freiheit?) hat Kopfhörer auf und hört deshalb nicht, dass ihre tote Tochter nach ihr ruft. Oh je.

Das alles ist ein bisschen viel. Insbesondere, weil stets das Gesamtbild im Vordergrund steht und nicht der Einzelne. Aussagen und Handlungen sind auf Wirkung bedacht und oft psychologisch - oder auch einfach nur logisch - nicht fundiert. Doch das ist OK, es ist Theater, das keinen Hehl daraus macht, Theater zu sein.

"Leibesübungen für eine Sünderin" von Jenny Erpenbeck. Deutsches Theater Berlin/Kammerspiele. Regie: Peter Wittenberg; Bühne und Kostüme: Sascha Gross; Darsteller: Jutta Wachowiak, Christine Schorn, Gabriele Heinz, Beata Lehmann; Katrin Klein; Ursula Staack; Michael Gerber; nächste Termine: 02., 13., 26. April 2003

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