
Schluss mit Apokalypse Deutschland ist weltoffen und cool!

Wir Deutschen blicken ja grundsätzlich eher pessimistisch aufs Leben. Ich meine, wer außer uns würde ein Phänomen wie "Frühjahrsmüdigkeit" erfinden? Den Frühling negativ betrachten - das können nur wir.
Natürlich schätzen wir auch unsere Gesamtsituation schlecht ein. Seit einer gefühlten Ewigkeit höre ich jetzt, dass die Demokratie in Gefahr ist, weil die vielen Flüchtlinge nicht integriert werden können. Der arme Deutsche fühle sich schon "fremd im eigenen Land". 2016 war der Neonazi-Spruch noch verpönt , inzwischen wird er als legitime Zustandsbeschreibung verwendet.
Wir wissen auch, wie es dazu kam. Die "German Angst" ist viral gegangen. Chronische Zukunftssorgen und der kleingeistige Umgang mit sämtlichen Veränderung sind im Netz verschmolzen mit der Lust an der Apokalypse und den Verschwörungsszenarien muselmanischer Landnahme. Auf Social-Media-Plattformen naht täglich das Ende.
Das beeinflusst natürlich auch die Berichterstattung - und die Stimmung. Wir sind so gereizt, dass wir unsere Regierungschefin fast abgesägt hätten, nur weil sie sagte: "Wir schaffen das!" Uff.
Aber bin ich die Einzige, die auf die Weltuntergangsstimmung keinen Bock mehr hat?
Wer in dieser Woche die Zeitschriften Der SPIEGEL und "The Economist" nebeneinander legte, konnte sehen, wie wohltuend der Blick von außen sein kann. Beide Magazine hatten das gleiche Titelthema: die seelische Verfasstheit der Deutschen. Ein sehr wichtiges Thema, keine Frage. Schlecht gelaunte Deutsche sind unangenehm bis gefährlich. Das muss man im Blick behalten.
Laut SPIEGEL geht die Angst um in Deutschland. Der Titel "Ist das noch mein Land?" beschreibt den Befindlichkeitsdschungel Bundesrepublik. Demnach ist die Stimmung schlecht, auf allen Seiten - auch beim Leser, spätestens nach der Lektüre.
Die Briten haben am selben Tag eine Wochenzeitung mit der Überschrift "Cool Germany" herausgebracht und erklären darin, dass sich das Land gerade neu erfindet: "more diverse, open, informal and hip". Laut "Economist" steht Deutschland am Beginn einer neuen Ära. Balsam für meine Leseraugen.
Die spontane Reaktion der meisten deutschen Leser dürfte aber eher lauten: Was haben die in ihren Tee getan? Das klingt wie von einem anderen Stern. Tatsächlich hat es seit der Bundestagswahl kein nationales Medium gewagt, Deutschland an prominenter Stelle als weltoffen und vielfaltsfreundlich zu bezeichnen. In allen Redaktionen wird diskutiert, ob wir die "Sorgen der Bürger" vor zu viel Multikulti vernachlässigt haben. Also wird das nachgeholt: Die Berichte kreisen täglich um die Befindlichkeiten der Volksbesorgten.
Der Mythos vom neuen Rechtsruck
Dahinter steht die Hoffnung, die Leute wieder einzufangen. Die Abgedrifteten und Lügenpresse-Rufer zurückzugewinnen.
Nur: Da ist nichts zurückzugewinnen.
Irgendwie hat sich die Deutung durchgesetzt, nach dem Sommer der Migration 2015 habe sich ein Teil der Gesellschaft von der Politik abgewendet und sei nach rechts gewandert. Das ist Quatsch, ein Mythos. Es stimmt nicht, dass viele Bürger erst seit Kurzem ihr Land nicht wiedererkennen.
Schon in den Achtzigerjahren gab es "eine mindestens so große Bevölkerungsschicht, die Einwanderern kritisch gegenüberstand, wie heute", heißt es in einer neuen Studie der Bertelsmann Stiftung mit dem Titel "Wie weltoffen ist Deutschland?" Der Anteil der Monokulti-Träumer ist demnach seit fast 40 Jahren konstant.
Natürlich, Migranten haben zu keiner Zeit offene Türen in Deutschland eingerannt. Der Grund, warum rechtsradikale Parteien nicht schon viel früher Erfolg hatten, sind laut Studie die Umstände: In den Neunzigerjahren gab es die Wiedervereinigung und wirtschaftliche Probleme. Alle sehnten sich nach Stabilität und Sicherheit. Keine Konjunktur für Wutbürgerparteien, deren Existenz von Untergangsszenarien abhängt.
Jetzt geht es Deutschland gut, jetzt können wir wieder Politiker wählen, die nur Probleme und keine Lösungen anbieten.
Zur Wahrheit gehört auch: Nicht nur Facebook und Co. gießen Öl ins Feuer der Rechtspopulisten. Journalisten und Bürger tragen ebenfalls eine Verantwortung für die schlechte Stimmung im Land. Wir alle haben unseren Anteil am gefühlten Rechtsruck.
Britischer Enthusiasmus für angstgebeutelte Deutsche
Im "Economist" heißt es: Wie die "New Germans" mit den Herausforderungen umgehen, werde "die Zukunft der größten Volkswirtschaft" in Europa bestimmen. Wir sollen zeigen, wie man mit den Rechtspopulisten umgeht - damit andere Länder sich ein Beispiel nehmen. Für Leute wie mich geht es um mehr als Volkswirtschaft, es geht um die Existenzberechtigung. Kippt die Stimmung wirklich, muss ich gehen.
Also hoffe ich auf mehr Optimismus. Gründe dafür haben wir genug: Die vergangenen Jahre waren Sternstunden der deutschen Zivilgesellschaft. Die Bundesrepublik hat seit ihrem Bestehen gezeigt, dass sie große Einwanderergruppen integrieren kann. Und unsere Verfassung ist dafür gemacht, rechter Hetze etwas entgegenzusetzen.
Was wir jetzt noch brauchen, ist ein neues kollektives Selbstbewusstsein: Deutschland ist weltoffen und locker. Schluss mit Apokalypse!