"Deutschland spricht" in der Datenanalyse Kuck mal, wer da spricht!
Obwohl Reden eigentlich immer die beste Lösung ist, werden politisch Andersdenkende gerne mit Schweigen bestraft. Zwar möchte man niemanden ausgrenzen, aber bei Vegetariern, bei Autofahrern und Emanzen hört das Verständnis auf, oder nicht?
Doch auch wenn viele Menschen mit ihren Ansichten weit auseinanderliegen, kann man ins Gespräch kommen. Dafür braucht es etwas guten Willen und eine smarte Idee. Die Idee war, eine Art Dating-Plattform für politische Gegensätze zu schaffen.
Das Ergebnis ist nun die Aktion "Deutschland spricht", bei der an diesem Sonntag, den 23. September, um Punkt 15 Uhr, im gesamten Land zum politischen Vieraugengesprächen gebeten wird. Insgesamt 28.000 Personen haben sich nach einem Aufruf von elf deutschen Medien, darunter auch SPIEGEL ONLINE, für den verbalen Schlagabtausch angemeldet. Sie wurden gebeten, einige politische Fragen zu beantworten, ihren Wohnort zu verraten und eine Mailadresse zu hinterlassen.
Per Algorithmus wurden daraus 10.014 mögliche Gesprächspaarungen ausgewählt (Rund 8.000 Anmeldungen waren fehlerhaft oder ungültig). Jedem Teilnehmenden wurde eine Person vorgeschlagen, deren Antworten möglichst gegenläufig waren und die in der Nähe lebt.
Aber wer trifft sich da von Angesicht zu Angesicht, um mit Fremden zu diskutieren, die nachweislich eine andere politische Meinung vertreten? Eine erste Annährung liefern die verschiedenen Datensätze, die wir anonym ausgewertet haben.
Die Teilnehmer
Vor allem Männer zeigen sich als streitfreudiger Sparringspartner interessiert. Der Männeranteil bei den Teilnehmenden liegt bei 68,3 Prozent. Frauen sind mit 29,9 Prozent deutlich weniger vertreten, etwa 1,8 Prozent haben ein anderes Geschlecht eingetragen oder machten keine Angaben.
Das Durchschnittsalter der Diskutanten liegt bei 41,6 Jahren und damit nur knapp unter dem Durchschnittsalter der Deutschen, das beträgt 44,3 Jahre. Dabei ist von 18 bis 97 Jahren eine ziemlich große Altersspanne vertreten.
Betrachtet man die Verteilung aller potenziellen Teilnehmenden auf der Deutschlandkarte, fällt auf: Die meisten Anmeldungen kommen auch aus dem bevölkerungsreichsten Bundesland: Nordrhein-Westfalen. Schaut man sich das Länderranking an und rechnet die meisten Teilnehmenden pro Einwohner, ist die Hauptstadt Berlin vorne. Insgesamt haben sich Menschen aus 4315 Postleitzahl-Gebieten beteiligt.
Der Osten des Landes war dabei etwas zögerlicher bei der Anmeldung als der Westen.

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Das Meinungsbild
Schon jetzt zeigt sich, dass bestimmte Fragen besonders polarisieren. Andere werden verblüffend einheitlich beantwortet. So sagen 85,1 Prozent aller Teilnehmer, dass Muslime und Nichtmuslime in Deutschland gut zusammen leben können. Auch die #MeToo-Debatte hat nach Meinung von insgesamt 72,4 Prozent etwas Positives bewirkt. Mit 81,7 Prozent glauben das aber mehr Frauen als Männer, von denen nur 68,2 Prozent die Diskussion um sexuelle Belästigung als nützlich bewerten.
Viel zu bereden geben dürfte es auch bei Themen wie Donald Trump oder autofreien Innenstädten. Gerade einmal 10,4 Prozent halten den aktuellen US-Präsidenten für gut für die USA. Etwas mehr als die Hälfte, nämlich 63,4 Prozent, möchte Autos aus den Innenstädten verbannen - ein großer Teil sieht das allerdings anders. Ähnlich kontrovers geht es bei Fragen zur Besteuerung von Fleisch oder strikten Grenzkontrollen zu.
Konsens und Meinungsvielfalt
Insgesamt mussten die Teilnehmenden sieben Fragen zu ihren politischen Ansichten beantworten, bevor sie sich für "Deutschland spricht" anmelden konnten. Dabei sind einige Antwortkombinationen besonders häufig gewählt worden. Gut 28 Prozent sind gegen stärkere Grenzkontrollen, finden, dass es diesem Land nicht schlechter als vor zehn Jahren geht und halten Donald Trump für einen schlechten Präsidenten.
Gleichzeitig befürworten sie die #MeToo-Debatte, Steuern auf Fleisch, autofreie Innenstädte und ein friedliches Zusammenleben zwischen Muslimen und Nichtmuslimen.
Was auffällt: Über 50 Prozent geben eine der fünf häufigsten Antwort-Kombinationen an. Trotzdem herrscht bei den Ansichten durchaus Pluralität: Alle 128 möglichen Antwort-Kombinationen sind vertreten.

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Und so ist noch nicht ganz abzusehen, was nun passiert, wenn die vermittelten Diskussionspaare aufeinandertreffen. "'Deutschland spricht' ist ein spannendes Experiment, das dazu beitragen kann, Schweigen, Vorurteile oder Unverständnis in Austausch und Debatten zu verwandeln", sagt Barbara Hans, Chefredakteurin von SPIEGEL ONLINE.
Ausgewählte Leserinnen und Leser wird SPIEGEL ONLINE bei ihren Gesprächen begleiten. In Berlin findet zeitgleich eine Veranstaltung der Plattform "My Country Talks" statt, die von "Zeit Online" gemeinsam mit internationalen Partnern konzipiert, von Google finanziert und von der Berliner Agentur diesdas.digital umgesetzt wurde. Auch der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird dort als Schirmherr von "Deutschland spricht" auftreten.
Beim ersten "Deutschland spricht" hatten sich im vergangenen Jahr vor der Bundestagswahl 12.000 Menschen angemeldet. In diesem Jahr hatten insgesamt elf Medien zu dem Dialog aufgerufen: "Chrismon", die "Deutsche Presse-Agentur", die "Schwäbische Zeitung", SPIEGEL, "Süddeutsche Zeitung Online", die "Südwest-Presse", "Tagesschau" und "Tagesthemen", "Der Tagesspiegel", "T-Online", die "Landeszeitung Lüneburg "und "Zeit Online".