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Helmut Kohl zum 80.: Deutsche Einheit und Wolfgangsee

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Die Achtziger unter Kohl Birne im Freizeitpark

Ja, das war mal ein Reizwort: die "geistig-moralische Wende". Von Helmut Kohl angekündigt, aber nie umgesetzt. Reinhard Mohr erinnert sich an die unverhohlen unvernünftigen Jahre vor der Wiedervereinigung - und gratuliert dem Altkanzler schon mal vorab zum 80. Geburtstag.

Als Helmut Kohl im Herbst 1998 das Kanzleramt räumen musste, ging eine ganze Generation auf Entziehungskur: Die unter 25-Jährigen hatten in ihrem jungen Leben eigentlich nur einen Kanzler bewusst erlebt - eben jenes "pfälzische Gesamtkunstwerk" (Joschka Fischer) aus Oggersheim mit seiner unverwüstlichen Vorliebe für Saumagen und Deidesheimer Wein. Kohl war nicht nur "Birne", wie die Satirezeitschrift "Titanic" unermüdlich und variationsreich vorführte - irgendwie war er auch Bürgerkönig und Papst, Buddha und Held aller Kassenbrillenträger.

Stellvertretend für viele beklagte der Publizist Karl-Heinz Bohrer Kohls provinzielle Selbstpräsentation, die auch an der Inszenierung der Staatsgeschäfte, der res publica, nicht spurlos vorübergehe: Seine "jeder geistigen Wahrnehmung widersprechende Körperlichkeit" habe ein angemessen aufgeklärtes Selbstbild der Bundesrepublik geradezu erdrückt. Der große Rest der linksliberalen und linken Intelligenz des Landes hatte für Kohl sowieso nur Spott, Häme und Verachtung übrig.

Die halbe Republik traf der Schlag

Heute, wenige Tage vor seinem 80. Geburtstag am 3. April, ist Angela Merkel allgegenwärtig und auf dem besten Wege, eine Art weiblicher Kohl zu werden - ausgerechnet sie, die ihm nach der Parteispendenaffäre innerparteilich den entscheidenden Schlag versetzt hat.

Am 1. Oktober 1982 aber, als Helmut Kohl durch ein konstruktives Misstrauensvotum im Deutschen Bundestag gegen Helmut Schmidt zum ersten christdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik Deutschland seit Kurt-Georg Kiesinger (1966-1969) gewählt wurde, traf ganz andere Leute der Schlag. Ungefähr die halbe Republik.

Unerträglich war vielen Deutschen damals der Gedanke, dass dieser Mann aus der pfälzischen Provinz, dessen Artikulation so gewöhnungsbedürftig war wie seine Rhetorik, nun die Bundesrepublik in aller Welt repräsentieren würde.

Deutschland peinlich Vaterland

Verglichen mit seinem weltläufigen und hanseatisch scharf formulierenden Vorgänger Helmut Schmidt wirkte Kohl schon ästhetisch und sprachtechnisch wie ein Irrtum der Geschichte.

Deutschland peinlich Vaterland, rauschte damals Millionen Zeitgenossen durch den Kopf, und als der Neue kurz darauf noch von einer "geistig-moralischen Wende" sprach, sahen sie sich nur noch bestätigt.

Von einem kulturellen "Rollback" war die Rede, von der Rolle rückwärts in die Vor-68er-Ära, einem neuen Biedermeier wie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Doch dann geschah das kleine Wunder, das vielen zu dieser Zeit noch gar nicht auffiel: Es ging einfach weiter wie bisher. Genauer: Kohl störte den Gang der Dinge gar nicht so, wie man befürchtet hatte. Gewiss, er war vielen peinlich und ein außerordentlich beliebtes Objekt praktisch sämtlicher Kabarettisten, aber die achtziger Jahre hatten längst ihre eigene Dynamik entfacht, die nicht einmal durch die berüchtigten Silvesteransprachen mit der notorischen Schlussformel "Gott schütze unser deutsches Vaterland!" aufgehalten werden konnte.

Im Zweifel linksliberal geprägte Konsensgesellschaft

Ihr erstes Opfer war denn auch die geistig-moralische Wende: Sie fand nicht statt. Im Gegenteil: In den achtziger Jahren entwickelte sich das, was wir heute als political correctness kennen - der Kanon einer im Zweifel linksliberal geprägten Konsensgesellschaft, die peinlich darauf achtet, dass möglichst niemand benachteiligt wird, sich benachteiligt fühlt oder auch nur glaubt, sich benachteiligt fühlen zu müssen.

Das aktuelle Antidiskriminierungsgesetz ist eine logische Folge dieser Zeit, in der die Revolution zwar offiziell ad acta gelegt wurde, die Emanzipation aber erst ihren wahren Siegeszug antrat. Die Gleichstellungsbeauftragte tauchte bereits am Horizont auf.

Epoche des Privatfernsehens beginnt

Es war das letzte Jahrzehnt der sogenannten BRD, der guten alten westdeutschen Bundesrepublik. Außer dem Schriftsteller Martin Walser glaubte fast niemand mehr an jene ominöse "deutsche Wiedervereinigung", für die doch im Grundgesetz immer noch ein schönes warmes Plätzchen freigehalten wurde. Aber es blieb eine Leerstelle, über die eigentlich kein Mensch mehr reden wollte. Man fuhr schon damals lieber nach Mailand als nach Leipzig.

Im Übrigen hatte man ganz andere Probleme: Waldsterben und Ozonloch, Algenpest und Robbensterben. Mit RTL und Sat.1 begann die Epoche des Privatfernsehens.

War in den siebziger Jahren irgendwie alles "politisch", so schien nun alles "Kultur" zu werden - selbst noch die "Streitkultur". Jetzt wurde bundesweit über alles geredet, gnadenlos, pausenlos und ohne Tabus.

Nach dem sensationellen Wimbledon-Sieg eines rothaarig-sommersprossigen Jungen namens Boris war man "mental" gut drauf, misstraute zugleich aber auch den neuen "postmodernen" Zuständen, in denen man Wirklichkeit und Inszenierung nicht mehr genau auseinanderhalten konnte: "Alles Lüge! Life is Xerox, you are just a copy!" lautete ein Leitspruch des Zeitgeists, der sich auf vielen Klowänden fand. Gerade deshalb aber nahm man nicht mehr alles so ernst, und das, obwohl die RAF in teutonischer Vollstreckungskultur weiter mordete.

"Gebt den Kindern das Kommando!" knödelte Herbert Grönemeyer, "die Welt gehört in Kinderhände/ dem Trübsinn ein Ende!"

"Freizeitpark Deutschland"

Das ließ sich der Comic-Zeichner Brösel ("Werner") nicht zweimal sagen und organisierte ein Wettrennen zwischen ihm und seinem Freund "Holgi". Vor über 200.000 Zuschauern trat er in einer abenteuerlichen, selbst zusammengebauten Rennmaschine gegen seinen Kumpel im roten Porsche 911 an, während auf den holsteinischen Wiesen drum herum 600.000 Grillwürstchen und 450.000 Liter "Bölkstoff" vertilgt wurden. Frank Schirrmacher, heute Mitherausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", stellte angesichts dieses gigantischen Jux-Events analytisch exakt einen "unverhohlenen Zwang zur Unvernunft" fest.

"Der Konsensus neuen Typs besteht nicht darin, dass alle einer Meinung sind, sondern darin, dass jeder seiner eigenen Meinung ist", - derart sarkastisch kommentierte der linke Autor Lothar Baier diesen neuen Hedonismus der Beliebigkeit, den 1987 auch der Autor Bernd Guggenberger aufgriff: "Sein oder Design" - das sei nun die Frage.

Und es stimmte ja: Es gab zwar jede Menge Debatten und "Diskurse", doch im "anything goes" der "Simulationsgesellschaft", so der französische Philosoph Jean Baudrillard, verloren sich die "fraktalen Subjekte" mit ihren "virtuellen Strategien" schnell wieder im großen weißen Rauschen der "Hyperrealität" - noch so ein beliebter Begriff der damals grassierenden Theoriemode des "Poststrukturalismus".

In gewisser Weise war ja auch Helmut Kohl "hyperreal", wahr und nicht wahr zugleich, riesig groß und irgendwie abwesend.

Dennoch war er "hyper-präsent": Seine massige Gestalt thronte über dem von ihm selbst immer wieder beklagten "Freizeitpark Deutschland", in dem, so schien es, eigentlich kein Mensch mehr ordentlich arbeiten wollte.

Tschernobyl als Fanal

Im Untergrund dieser riesigen Spielwiese aber lauerte die Angst, besser: Ängste. Angst vor Atomraketen, Angst vor Umweltvergiftung, Angst vor verdorbenen Eiernudeln. Der Super-Gau des Atomkraftwerks Tschernobyl im April 1986 wirkte da wie ein Fanal, wie eine Großmetapher: Nichts ist sicher, alles kann passieren.

So befanden sich Zeitgeist und Lebensgefühl am Ende der achtziger Jahre in einem merkwürdigen Schwebezustand - irgendwo zwischen Panik und Langeweile, Hysterie und Stillstand.

Dann fiel die Mauer.

Helmut Kohl, der Buddha aus Oggersheim, hat die historische Chance zur Wiedervereinigung ergriffen. Bei allen Fehlern, die dabei gemacht wurden - es war, zusammen mit seinem jahrzehntelangen Engagement für die europäische Integration Deutschlands - die Einführung des Euro inbegriffen - seine historische Leistung.

Daniel Cohn-Bendit, der Revolutionär des Pariser Mai 1968 und heutige Europa-Abgeordnete der französischen Grünen, bekannte angesichts des "ökonomischen Nationalismus" der Bundeskanzlerin in Sachen Griechenland-Hilfe, er "sehne" sich nach Helmut Kohl zurück.

Kann es ein schöneres Geburtstagsgeschenk geben?

Zu Ehren des Altbundeskanzlers zeigt die ARD am Freitag ab 23.30 Uhr "Die lange Kohl-Nacht" als moderierte Collage verschiedener Dokumentationen.
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